Märchenhaftes Kassel

Stadtbeschreibung Christian Saehrendt hat einen unterhaltsamen und klugen Führer durch die documenta-Stadt geschrieben. Auf 200 Seiten präsentiert er Kassel und die Weltkunstausstellung

Am Anfang waren nicht die Märchen, doch sie zu Beginn eines Reiseführers zu erzählen, ist eine schöne Geste. Schließlich lebten vor 200 Jahren die Märchenbrüder Grimm in Kassel und schöpften für ihre Märchensammlung aus dem lokalen Geschichtenfundus. Das ist nicht vergessen, doch wenn es um Kassel und die documenta geht, spielt es selten eine Rolle. Schließlich will, wer alle fünf Jahre zur documenta fährt, nicht Kassel sehen, sondern Weltkunst.

Trotzdem ist die documenta nicht ohne Kassel zu denken und deshalb erzählt Christian Saehrendt in seinem „Führer zur documenta-Stadt“ Märchen und wahre Geschichten rund um Kassel. Dabei wird die Frage, warum ausgerechnet Kassel Ort der Weltkunstausstellung ist, ebenso erörtert wie die altbekannte Häme noch einmal zitiert wird. „Kassel, ein Name wie das Geräusch einer Katze, die einen Haarballen ausspuckt“, befand eine Schweizer Journalistin. Und über die Menschen, die in Kassel leben, schrieb sie: „Die sitzen mit Eduschogesichtern in Einkaufszentren und starren auf die Auslagen der Billigschuhläden.“

Für diese Art der arroganten Stadtbetrachtung ist Christian Saehrendt, Autor mehrerer Bücher über den Kunstbetrieb an sich und seine lustigen Auswüchse im Besonderen, zu klug und zu gut informiert. Er nähert sich der documenta-Stadt durch das hessische Waldesdickicht, in dem Rotkäppchen dem Wolf begegnete, Hänsel und Gretel der Pfefferkuchenhexe einheizten und Schneewittchen bei den sieben Zwergen scheintot im Glassarg auf ihren Prinzen wartete. Im leichten Plauderton, Stadt und Region zugetan, um ihre historische und aktuelle Bedeutung aber auch um ihre Probleme wissend, stellt Christian Saehrendt auf gut 200 Seiten Kassels Geschichte und die verschiedenen Ausgaben der Weltkunstausstellung vor.

Lokale Idee, globaler Erfolg

Das könnte tüchtig langweilig werden, denn die Geschichte der documenta ist längst ausführlich beschrieben und war selbst Thema einer Ausstellung. Doch Saehrendt bohrt tief nach Klischees und Kritiken und versteckt sich nicht aus falsch verstandenem Lokalpatriotismus hinter einer alles beschönigenden Heimatliebe. Nichts wäre im Übrigen lächerlicher als solch lokalpatriotisch-verliebter Blick auf eine Stadt mit großen ästhetischen und auch finanziellen Problemen. Ebenso wenig aber wäre eine komplett negative Beschreibung glaubwürdig. Saehrendt fragt nicht zu Unrecht: „Sind die Kritiker nur deshalb nach Kassel gekommen, um ihre Schnöseligkeit zu demonstrieren?“

Vielleicht. Doch nur in eben diesem Kassel finden sie seit 1955 die einzige Weltkunstausstellung, die diesen Namen unangefochten, unwidersprochen und konkurrenzlos führt und führen kann. Der Grund dafür könnte durchaus der viel belächelte Mangel an Attraktivität sein. „Damit die zeitgenössische Kunst glänzen kann, braucht sie geradezu einen langweiligen oder banalen Hintergrund. Kassel ist das ideale graue Passepartout, der beige Sockel. Kassel ist der Stadt gewordene White Cube“, meint daher Saehrendt.

So kann man es auch sehen oder einfach festhalten, dass die documenta-Idee nun mal in Kassel geboren wurde und gegen alle Widerstände und mit dem klugen Anspruch, die aktuelle Kunstentwicklung zu dokumentieren, seit bald 60 Jahren existiert und immer erfolgreicher wird. Nicht nur, weil immer mehr Besucher kommen, sondern auch, weil sie sich neben immer mehr Biennalen und thematischen Großausstellungen als größte, wichtigste, normgebende behauptet – egal wer gerade zum Chef ernannt wurde. Der globale Erfolg einer lokalen Idee hat noch jede Mode überlebt.

Die dreizehnte documenta beginnt im Juni und es ist, wie immer vorher: die Spannung steigt und letztendlich wird es Pannen und Kritik geben und doch werden die meisten Besucher sehr zufrieden mit ihrem Ausflug nach Kassel gewesen sein. Vor allem, wenn sie nach der Lektüre dieses Stadt-Mentalitäts-, Geschichts- und Landschaftsführers ein wenig mehr entdeckt haben als die aktuelle Ausstellung.

Kassel. documenta-Geschichten, Märchen und MythenChristian Saehrendt dumont, 240 S., 16,95

Uta Baier ist Kunsthistorikerin

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