Marktfähig

Kommentar Neues Tarifrecht im öffentlichen Dienst

Wieder wird in Frankreich ein sozialer Konflikt auf die Straße getragen. Unter dem Motto "Steigert die Löhne und nicht die Arbeitszeit" haben am Wochenende beinahe eine Million Menschen gegen die Aufweichung der 35-Stundenwoche protestiert. Und hier zu Lande? In einem Potsdamer Hotel am Templiner See, gut bewacht vom Bundesgrenzschutz, verhandelten Gewerkschaften und öffentliche Arbeitgeber über eine "Jahrhundertreform". Denn der öffentliche Dienst soll wettbewerbsfähig werden, und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di operiert mit Schlagworten wie Kunden- und Marktorientierung, mehr Effizienz, Aufgaben- und Leistungsorientierung, um den Mitgliedern die "Neugestaltung des Tarifrechts im öffentlichen Dienst" schmackhaft zu machen. Einst galt das umfassendste Flächentarifwerk der Republik - der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) - für gut acht Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst und betraf nicht nur die Angestellten. Auch die Entlohnung für Arbeiter und die Besoldungsrichtlinien für Beamte wurden vom BAT abgeleitet.

Vor zwei Jahren verabredeten Arbeitgeber und ver.di, das in die Jahre gekommene Tarifrecht "zu modernisieren", wie es in bewährter "Reformsprache" heißt. Man sollte sich genau vor Augen halten, unter welchen Umständen das nun geschieht. Weite Teile des öffentlichen Dienstes sind privatisiert - genauer: das Volk wurde enteignet. Die alte ÖTV glaubte, durch tarifvertragliche Konzessionen könne Privatisierung verhindert oder sozial abgefedert werden. Doch sie sollte sich täuschen. Für den Bürger wurde vieles teurer und der Service schlechter. Gut drei Millionen öffentliche Stellen sind inzwischen abgebaut - wer blieb, musste Einbußen hinnehmen. Seit dieser Woche heißt die Formel: flexiblere Arbeitszeiten, gerechtere Entgeltrichtlinien, transparentere Aufstiegsmöglichkeiten. Mag sein, dass es dabei auch Gewinner gibt. Doch Kindergärtnerinnen, Krankenschwestern, Müllmännern und Sozialarbeiterinnen muss es wie Hohn vorkommen, wenn ihre Tätigkeiten künftig an betriebswirtschaftlichen Kriterien gemessen werden. Gegen wen müssen sie wettbewerbsfähig sein? Bildung, Kultur, Gesundheit und Soziales sind keine Waren, die auf dem Schnäppchenmarkt zu verramschen sind.

Mit Recht prangert Bsirske den Neoliberalismus an, macht sich aber unglaubwürdig, wenn er seine Unterschrift unter ein Vertragswerk setzt, das von neoliberalem Gedankengut nur so strotzt. Auch fehlt der "Reform" die demokratische Legitimation, denn die Beschäftigten waren in diesen Prozess nicht eingebunden. Über ihre Köpfe hinweg haben Experten entschieden und die Debatte um Niedrig- und Mindestlöhne ad absurdum geführt. Denn künftig soll eine "Leichtlohngruppe" in Höhe von 1.286 Euro brutto ausgelagerte Tätigkeiten in den öffentlichen Dienst zurückholen. Tarifverträge wurden einmal geschlossen, um Konkurrenz unter Beschäftigten einzudämmen. Erinnert sich noch irgendjemand daran?


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