In Deutschland gibt es heute hörbar mehr Antisemiten als vor zwei, drei Jahren. Wahrscheinlich sind es nicht mehr als in Frankreich und weit weniger als in Ungarn oder Polen. Wo so manches seit Gründung der Berliner Republik als Normalisierung der Gefühlswelt der Deutschen, als Kennzeichen eines erneuerten Selbstbewusstseins mehrheitlich begrüßt worden ist, sollten die Freunde der Wiederkehr des Herkömmlichen nicht zögern, auch den verstärkten Antisemitismus unter Normalisierung zu verbuchen. Wie denn auch nicht? Früher oder später musste es dahin kommen. Die Zeit, die verstreicht, bis der alte Adam, die alte Eva jedweder Nationalität unübliche, sozusagen anomale Auffassungen, Einsichten und Vorsätze wieder verdrängen, h
;ngen, hängt vor allem von der Tiefe des jeweils vorangegangenen Sturzes ab. Bei der Mehrheit der Deutschen hat es nach 1945 fast ein halbes Jahrhundert gedauert. Der Sturz war sehr tief gewesen. Ist Martin Walser ein Antisemit? Aber nein, aber nein. Er ist es ebenso wenig, wie Ernst Jünger ein Nazi war. So ist denn auch der Anstoß, den Vertreter der Juden in Deutschland vergangene Woche an einem prominenten Auftritt Walsers mit Bundeskanzler Schröder genommen haben, von einer breiten deutschen Öffentlichkeit entschieden zurückgewiesen worden. Hätten die Juden nicht bedenken sollen, dass ihre Einmischung in die Frage, wer am 8. Mai wo und worüber in Deutschland spricht, nur Wasser auf die Mühlen der Antisemiten ist? Wo kämen wir hin, wenn jene Personengruppe über den öffentlichen Veranstaltungskalender an gewissen Tagen rechten wollte, die schon Martin Walsers Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche 1998 so gründlich missverstanden hat? Man könnte ja meinen, hierzulande nähmen bestimmte Kreise einen unangemessenen Einfluss. Haben wir nicht gerade mit dem Zurückweisen der Proteste von jüdischer Seite im Grunde die Freiheit dieser Seite, zu protestieren, sicherer gemacht? Ich habe diese peinliche, erschreckende Argumentationskette von Leuten gehört, für die ich ausschließen möchte, dass sie Antisemiten werden könnten. Aber mir scheint, es gibt eine zunehmende - ich stocke, in diesem Zusammenhang den Begriff zu verwenden: arglose - Grenznähe zum gewöhnlichen Antisemitismus. Wie tritt diese Gefühlsseuche, die international ist und keine Erbkrankheit allein der Deutschen, eine Erkenntnis, zu der es nicht Walsers bedurfte, derzeit in Deutschland zutage? Eine sportliche Neigung führt mich öfter an Tische, an denen man nach den Anstrengungen ausruht und sich gehen lässt. So habe ich erfahren: Der gewöhnliche Antisemitismus drückt sich vor allem in einem bestimmten Tonfall aus, in dem von hoch bis nieder über jüdische Mitbürger und deren angeblich typisch jüdische Eigenschaften, vor denen man sich besser hütet, geredet wird. Nicht übermäßig oft geredet, aber auch nicht nur selten. In einem Tonfall, zu dessen voller Wirkung ein beziehungsreiches Lächeln gehört, das wie der Vorhang vor einer tiefsitzenden Abneigung ist. Auch eine Spur widerwilliger Anerkennung von Fähigkeiten kann mitschwingen; Fähigkeiten freilich, die nicht zu besitzen am Ende doch den redlichen Menschen auszeichnet. Manchmal wird probehalber gefragt, ob der oder jener sich nicht wie ein Jude gezeigt habe: Ist er denn einer? Spricht man die entspannten Gemütsmenschen auf ihre kaum noch oder gar nicht verschleierten antisemitischen Anspielungen an, so beteuern sie inzwischen nicht mehr eilfertig, dass sie keinesfalls Antisemiten seien. Heutzutage lassen sie den etwaigen Verdacht auf sich beruhen. Aber ausnahmslos alle, die ich von ihnen getroffen habe, lehnten ausdrücklich den Vandalismus auf jüdischen Friedhöfen, die Hakenkreuzschmierereien, das Umstürzen von Grabsteinen ab. Soll man sagen: immerhin? Fällt hier noch ein dämpfender Schatten von Auschwitz auf deutsche Gemüter? Ich denke, dessen bedarf es nicht. Wie ich es verstehe, ist die Ablehnung allgemeiner und nicht im Rückblick gefasst: Solche Gewalt ist ordinär und, vor allem und schließlich, soll man doch die Toten ruhen lassen - in jedem Sinne. Über Literatur übrigens wird an diesen Tischen wenig gesprochen, eigentlich nur zur Weihnachtszeit. Walsers guter Ruf gründet sich hier ganz überwiegend auf seine öffentlichen Auftritte damals in Frankfurt und jüngst in Berlin. Martin Walser ist ein Schriftsteller mit einer Neigung zu öffentlichen Selbstgesprächen, auf deren gedankliche Schlichtheit er sich viel zugute hält. Derlei hat immer sein Publikum. Gemütsergießungen auch außerhalb der Poesie, in der sie beim Einhalten einer gewissen Qualität ihren natürlichen Ausdruck finden, hat es stets gegeben - zu manchen Zeiten und in manchen Ländern mehr und öfter als in anderen. Wie ich es sehe, sind die Hoch-Zeiten der öffentlichen Gefühlsrhetorik immer verbunden mit einer Geringschätzung der Ratio. In solchen Phasen verringert sich die Fähigkeit von Gesellschaften zum argumentativen Abwägen ihrer Probleme - bis hin zur Verunglimpfung der Vernunft - und verstärkt sich die Verführbarkeit der Menschen. Nach einiger Zeit schlägt dann das Pendel zurück. Nach dem unablässigen Einfordern eines öffentlichen Gefühlseinklangs der Deutschen unter dem Nationalsozialismus waren die Scheu vor historischem Pathos und das Bedürfnis nach nüchterner Kommunikation die Kennzeichen einer zurückgewonnenen Individualität. Den Westdeutschen war diese geistige Freiheit stärker vergönnt als den Ostdeutschen. Nun ist an Martin Walser, und beileibe nicht nur an ihm, ein neuerlicher Rückschlag des Pendels zu erkennen. Gegen sein Geschichtsgefühl, das als solches nicht zuletzt den Intellekt diffamieren soll, ist kein Kraut gewachsen. Aber hätten die Deutschen nach so manchem Unglück jetzt nicht das Glück haben können, einen Geschichtsgefühl-Entblößer in ihrer Mitte zu haben, in dessen Ergriffensein von der Historie sich mehr niedergeschlagen hätte als das Schulpensum der mittleren Reife? Ist nichts vorgedrungen in Walsers Gemüt vom Existieren in einer Geschichte unter Konfessionsspaltung und sozialen Gebundenheiten, zwischen groß- und kleindeutschen Empfindungen, mit landsmannschaftlichen Verankerungen und Ängsten, die bis in den Dreißigjährigen Krieg zurückreichen? Walser benutzt in seinen öffentlichen Selbstgesprächen eine Vieldeutigkeit, die vielleicht kalkuliert ist, vielleicht aber auch nur einer in manchem unklaren Gefühlslage entspringt. Sicher ist, dass er die mühselige Arbeit am Kleingedruckten der deutschen Teilung, am Zusammenhalten der Nation mittels unspektakulärer, aber konkreter Schritte als Nachweis eines Mangels an nationalem Bewusstsein ausgibt. Dem stellt er sein Pathos entgegen. Das ist die populistische Methode der Diffamierung vernünftiger Politik. Das hat es schon öfter gegeben. Der Nation dienlich war es nie. Dienlich freilich ist der Beweisführung Walsers, dass er stets nur zur Kenntnis nimmt, was seine erfühlten Urteile nicht widerlegt. Jahre vor Walsers Münchner Rede von 1987 über Walser und die Nation hat einer von den politischen Kärrnern, die er bei Bedarf verächtlich macht, geschrieben: "Das gibt es: ein Nationalgefühl zu haben, ohne dass es gleich das schönste, höchste aller Gefühle wäre; eher ist es von Skepsis durchsäuert; regionale Bindungen wirken stärker als Vorstellungen vom großen Ganzen; die Muttersprache ist mehr als das Vaterland. Aber auf Dauer von der Entwicklung geistig abgetrennt zu sein, die man in Thüringen nimmt und in Mecklenburg - dem will sich das Gefühl nicht anbequemen. So schwer es zu definieren ist, so viel steht wohl fest: Es berücksichtigt die Teilung, es lebt nicht aus der Konfrontation, es wurzelt hinter den Systemen auf Erfahrungen mit den Menschen ... Ich empfinde Zuneigung, sagen wir, zu den Sachsen, Vertrautheiten, die von weither kommen, gegenwärtig sind und hoffentlich Zukunft haben." Ende des Zitats aus einem von Walsers Alleinvertretungsanspruch des Nationalen erstickten Textes. Gerhard Schröder konnte sich nicht unter Druck setzen lassen, Walser am 8. Mai wieder auszuladen. Niemand soll das Recht auf eine Vormundschaft über den Bundeskanzler haben. Aber hätte sich Schröder etwas vergeben, wäre seine Würde verletzt worden, wenn er, ohne jede öffentliche Mitteilung darüber, allein aus Taktgefühl gegenüber den jüdischen Deutschen, Walser an einem anderen Tag eingeladen hätte? Wäre nicht schon das etwaige Missverständnis der Opfer über Walsers Rede genug Grund dafür gewesen? Es hätte nicht das Eingeständnis bedeutet, dass nur Deutsche ein Auschwitz bewerkstelligen können.
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