Es kommt nicht so oft vor, dass sich die Bundestrainerin während eines laufenden Turniers in die Hängematte legt. Und für die Länge eines Fußballspiels abschaltet, um ein Buch zu lesen. Es war der zweite Teil von Susanne Abels Was ich nie gesagt habe. Gretchens Schicksalsfamilie, den Martina Voss-Tecklenburg endlich auslesen konnte. Ein Bestseller, der von Demenz, Rassismus, Ausgrenzung und Flucht handelt. Und in die dunkle Vergangenheit des Nationalsozialismus führt. „Kann ich nur empfehlen“, meinte die 54-Jährige kurz vor dem Viertelfinale gegen Österreich (2:0) in der Lobby des Teamhotels im Londoner Stadtteil Brentford.
Jeden Tag nur Fußball, vom Aufstehen bis zum Einschlafen, das hält auch eine Powerfrau wie sie nicht durch.
ie sie nicht durch. In den Tag startet Voss-Tecklenburg während des Turniers mit einer halben Stunde Schwimmen im Hotelpool. Was auffällt: Vieles ist bei ihr im Gleichgewicht. Empathie und Emotionen. Mal Zügel anziehen, mal Leine lassen. Diese Balance zu finden, war mühsam, obwohl sie Spielerinnen um sich hat, die sie lange kennt. Mit Linda Dallmann und Marina Hegering hatte sie zu tun, seitdem die zwölf sind; zur Kapitänin Alexandra Popp besteht eine Verbindung aus deren schwieriger Jugendzeit, was es nicht zwangsläufig leichter macht. Drei Jahre hat Voss-Tecklenburg gebraucht, um für diesen Kader ein Anker zu sein. Das ging nur, weil auch sie sich geändert hat.Voss-Tecklenburg ist eine Menschenfängerin auf dem zweiten Bildungsweg. Als Cheftrainerin beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) war etwas anderes verlangt als einst in der Schweiz, „wo ich lange mit meinem Co-Trainer fast allein war“. Ihr kam das eigentlich vom Typ her zugute. „Ich war immer sehr dominant. Ich wollte am liebsten von vorn bis hinten als Trainerin alles alleine machen.“ Heute kann sie delegieren. „Das tut mir gut. Das tat aber auch den Spielerinnen gut, dass die Martina nicht immer nur mit dem erhobenen Zeigefinger dasteht“, erzählte sie im Trainingslager in Herzogenaurach. Aber die Chefin kann auch streng sein. Das fiel in London beim Training auf dem Gelände des Grashoppers Rugby Football Club auf, wenn es laute Ansagen gab.Hohe Einschaltquoten bei den Frauen-TurnierenDie Fußballnation kennt jetzt diese Fußballlehrerin. Die EM-Einschaltquoten sind besser, als sie es bei den meisten Länderspielen der Männer in der Nations League vor einem Monat waren. Erst sechs, dann acht, danach fast zehn Millionen. Frauen-Turniere faszinieren seit jeher ein Massenpublikum, doch wirkt die deutsche Mannschaft bei dieser EM so sympathisch wie lange nicht. Das neue Verantwortungs- und Gemeinschaftsgefühl fürs Nationalteam entstand unter einer früheren Nationalspielerin, die viermal Europameisterin wurde. Bei der Premiere 1989 gab es noch das berühmte Kaffeeservice als Prämie.Patrik Grolimund, der für Athletik zuständige Experte, bewundert, wie Voss-Tecklenburg bisher dieses Championat in England gemeistert hat „Sie ist ja nicht nur das öffentliche Gesicht. Sie ist diejenige, die auch bei uns unter permanenter Beobachtung steht. Sie soll alles super managen.“ Spätestens ab der K-o.-Phase verzeiht eine EM oder WM keine Fehler mehr. Voss-Tecklenburg musste dies vor drei Jahren schmerzhaft erfahren.Für die WM 2019 war sie zwar längst als Nachfolgerin von Horst Hrubesch vorgestellt, aber sie fühlte sich dem Schweizer Verband weiter verpflichtet, dessen „Nati“ sie noch in den Playoffs bis in den Herbst 2018 betreute. Die WM-Qualifikation mit der Schweiz gelang nicht, während ihr zugleich diese Zeit mit dem deutschen Team fehlte. Sie erinnert sich ans erste Trainingslager im Februar 2019 in Marbella mit ihrer vom DFB eingestellten Assistentin Britta Carlson, dem bei den Spielerinnen hochgeschätzten Hrubesch-Vertrauten Thomas Nörenberg und dem gebürtigen Basler Grolimund: „Alle haben wild durcheinandergerufen.“Martina Voss-Tecklenburg schafft belastbare BeziehungenUnterschiedliche Charaktere, verschiedene Ansichten. Zudem war ihr bei der WM 2019 in Frankreich nicht wirklich klar, welche Rollen die Spielerinnen in Drucksituationen ausfüllen können. Es kam, was kommen musste: falscher Matchplan im Viertelfinale gegen Schweden, das vermeidbare Aus gegen einen Lieblingsgegner. Und viele Fragezeichen. Voss-Tecklenburg nahm Rat vom Verband an – und ging selbst mit Taten voran.Sie wollte ihre wichtigsten Helfer besser kennenlernen. Sie mietete eine Location im Schwarzwald. Tagsüber wurden Workshops zu Training, Taktik und Technik bestritten. Danach wurde zusammen gekocht sowie mit Pfeil und Bogen geschossen. Sie hat auch alle einmal zu sich nach Straelen an den Niederrhein eingeladen und ein Gin-Testing veranstaltet. Ihr Ziel: belastbare Beziehungen schaffen. Ihr Credo: „Wir brauchen erst Klarheit bei uns, bevor wir Klarheit bei den Spielerinnen verlangen.“Ihr Ehemann Hermann Tecklenburg, ein erfolgreicher Bauunternehmer, ist jetzt bei den EM-Spielen in England stets in ihrer Nähe. In den Stadien suchen sie den Blickkontakt, einmal haben sich beide innig am Mannschaftsbus umarmt, und die Auslöser der Fotografen klickten am Community Stadium von Brentford. Die Bundestrainerin zeigte an gleicher Stelle am 21. Juli Format, als sie nach dem Halbfinaleinzug gegen Österreich nicht in die Jubelschreie ihrer in der Kabine feiernden Spielerinnen einstimmte, sondern in der Pressekonferenz ihr Mitgefühl über den am selben Tag verstorbenen Uwe Seeler zum Ausdruck brachte. Mit bewegter Stimme redete sie über einen großartigen Menschen.Placeholder infobox-1