Maßlose Unterwerfung

Türkei Mit dem Entzug der Immunität von 138 Abgeordneten ist das Land einem autoritären Präsidialsystem wieder ein Stück näher gekommen
Ausgabe 21/2016
Ganz auf Linie: der neue Parteivorsitzende der AKP Binali Yıldırım
Ganz auf Linie: der neue Parteivorsitzende der AKP Binali Yıldırım

Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images

Tayyip Erdoğan ist seinem Ziel, der Türkei ein Präsidialsystem zu verschaffen, wieder einen Schritt näher gekommen. Indem sie die Immunität von 138 Abgeordneten aufhob, hat sich die Legislative gegenüber der Exekutive selbst entmachtet und an Handlungsfähigkeit verloren. Dass die ultranationalistische MHP der AKP dabei sekundiert hat, überrascht wenig. Seit langem will sie einen harten Kurs, der sich gegen die pro-kurdische und linke HDP richtet. Zudem steht ihr die AKP-Wählerbasis nahe. Verblüffend ist das Abstimmungsverhalten der linkssäkularen CHP, weil sich die sozialdemokratisch gefärbte Partei sonst vehement gegen ein Präsidialsystem à la Erdoğan verwahrt. Man habe verhindern wollen, so die Begründung der Parteiführung, in der Öffentlichkeit als Unterstützer des „verlängerten Arms der Terrororganisation PKK“ hingestellt zu werden.

Die CHP-Spitze hatte sich schon mit ihrem Vorschlag verrechnet, die Immunität aller Parlamentarier aufzuheben, die der Korruption und des Amtsvergehens bezichtigt werden. Sie vermochte danach dem AKP-Vorstoß argumentativ nicht viel entgegenzusetzen. HDP-Parlamentarier wiederum könnten Vorwände geliefert haben, sie zu kriminalisieren. Es gibt Medienberichte über kurdische Abgeordnete, die der Familie eines Selbstmordattentäters, der den Tod mehrerer Menschen zu verantworten hat, einen Kondolenzbesuch abstatteten. Auch sollen im Parlament PKK-Märsche gesungen worden sein. Ob das zutrifft, tut nichts zur Sache. Entscheidend ist der Effekt, die Opposition zu paralysieren.

Der Immunitätsentzug ist innerhalb kurzer Zeit eine der Machtdemonstrationen Erdoğans, mit denen er Handlungsoptionen signifikant erweitert. Dementsprechend könnte es bald vorgezogene Parlamentswahlen geben, um von der Orientierungsschwäche der Opposition zu profitieren. Wegen des unversöhnlichen Kurses gegenüber der PKK und HDP erscheint es für die AKP aussichtsreich, als Law-and-Order-Partei Stammwähler der ultrarechten MHP abzuschöpfen. Die Partei könnte so an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern, die für eine parlamentarische Präsenz nötig ist. Nicht auszuschließen, dass ihre Mandate dann überwiegend der AKP zufallen. Da Gleiches auch für die HDP denkbar ist, könnte die AKP spielend auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament kommen, ohne zwei Drittel der Wählerstimmen zu erreichen.

Zunächst einmal kann jetzt auf die Parlamentarier Druck ausgeübt werden, denen die Immunität gekappt wurde. Sie bleiben in der Legislative, bis ein rechtskräftiges Urteil gefällt ist. Was liegt für die AKP-Regierung näher, als angesichts einer möglichen Strafverfolgung die Betroffenen zu disziplinieren und zum Wohlverhalten gegenüber einer Verfassungsrevision zu veranlassen?

Kein Zweifel, die Türkei nähert sich einem autoritären System, das Erdoğan eine bis dato unbekannte Machtfülle zuschanzt. Bereits Ende April hatte er bewirkt, dass der AKP-Parteivorstand dem damaligen Parteichef Ahmet Davutoğlu das Recht entzog, Parteifunktionäre auf regionaler Ebene zu benennen, woraufhin dieser seinen Rücktritt erklärte. Mit Davutoğlu hatte sich Erdoğan in der Frage des Präsidialsystems offenbar überworfen. Auf dem Parteikongress am Wochenende wurde nun Binali Yıldırım zum Vorsitzenden gewählt und der Parteivorstand mit Erdoğan-Getreuen besetzt. Der neue Premier wird als Ordonanz der Autokratie gebraucht.

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