Mauer her!

Sportplatz Als am Wochenende nach dem so genannten Mauerfall im November 1989 die SG Wattenscheid 09 zum Pflichtspiel gegen den damaligen Spitzenreiter der ...

Als am Wochenende nach dem so genannten Mauerfall im November 1989 die SG Wattenscheid 09 zum Pflichtspiel gegen den damaligen Spitzenreiter der Zweiten Fußballbundesliga, Hertha BSC, ins Berliner Olympiastadion kam, skandierten, weil´s lustig und gerade aktuell war, die Zuschauer bei jedem halbwegs in Tornähe gegebenen Freistoß: »Die Mauer muss weg«. Sachzwänge, die sich aus dem Ziel der Mannschaft, gegen die der Freistoß verhängt wurde (nämlich kein Tor zu kassieren), ergeben, brachten die Spieler beider Mannschaften selbstverständlich dazu, sich dieser Aufforderung zu entziehen. Die Mauer gehört nämlich, Schandmal hin, Schandmal her, zum Sport. Sie ist ein wichtiges sportliches Symbol der vermeintlichen Unüberwindbarkeit. Vermeintlich, weil es die Mauer letztlich doch, freilich nur mit sportlichen Mitteln, zu überwinden gilt. Im Fußball postiert der den Freistoß erwartende Torwart bekanntlich seine Mitspieler so, dass ein direkter Weg des Balles vom Freistoßpunkt ins Tor nicht möglich ist. Der Schütze hat dann, so er den Freistoß direkt ausführt, zwei Möglichkeiten: Entweder er versucht´s mit roher Gewalt, schießt sich quasi eine Lücke, hofft also beispielsweise, dass sich einer der die Mauer bildenden Spieler duckt.. Oder aber er wagt einen Schlenzer, der den Ball über die Mauer oder seitlich an ihr vorbei ins Tor ziehen lässt. Das ist zweifellos die schwierigere, jedoch elegantere Option, und wird wesentlich häufiger angewendet. Schlenzen kommt, wie Thomas Gehrmann einmal gezeigt hat (»Der Schlenzer. Ein Annäherungsversuch«, in: Sportkritik, Nr.1/94, S. 22), schon bei Goethe vor, der »das Schlenzen und Scharwenzeln mit den Weibern« beschrieb. Mithin stellt sich eine Analogie zur sozialliberalen Entspannungspolitik ein, die Wandel durch Annäherung erreichen wollte und so die Mauer zu überwinden suchte. Dem Schlenzer wohnt aber auch immer etwas faul-genialisches inne: Es ist, so heißt es in etymologischen Wörterbüchern, mit »schlendern« verwandt und steht auch für »(1) nichts arbeiten, (2) schleudern, im Sinne von ›schwingen machen‹, (3) jemanden übervorteilen«. Hohe technisch-sportive Fertigkeit überwindet halt eher Mauern, als eine bloße Brachialvariante.

Das gilt selbstverständlich auch für andere Sportarten, die Mauern aufweisen. Das Springreiten etwa ist ohne Mauern - hier ›Hindernisse‹ genannt - nicht denkbar Es sind hier Hecken oder Wassergräben, die sich dem Pferd entgegenstellen, manchmal wie Weidezäune erscheinende Holzgestelle und nicht selten wirklichen Mauern nachempfundene Holzkastenkonstruktionen. Parcoursbauer vergeben dann solch hübsche Namen wie »Südamerikanischer Schweinestall« oder »Rote irländische Gartenmauer«. Wie im Fußball, so legen auch im Springreiten die Regeln verdammt nahe, dass die Mauer überwunden werden sollte. Dabei sollte sie, gleichfalls wie im Fußball, nicht berührt werden. Das Touchieren ist zwar nicht verboten, aber im Fußball bringt es den Ball in eine nicht zu berechnende Richtung, die meist den Torerfolg verhindert, und im Springreiten bedeutet es für Gaul und Reiter Strafpunkte, worüber sich traditionell der Reiter mehr ärgert. Mauern müssen aufgestellt sein, damit sie überwunden werden können. Sonst macht der Sport keinen Spaß, sonst verliert er seinen Sinn. Das gilt für Fußball und Springreiten ebenso wie für Handballsport, fürs alpine Klettern wie für den leichtathletischen Hindernis- und Hürdenlauf. Auch Volleyball- und Tennisnetze erfüllen nichts anderes als eben diese Funktion: eine Mauer bilden. Dem, der den Ball reinsemmelt, ergeben sich sportliche Nachteile.

Die Mauer, so kann also bilanziert werden, muss gefälligst bleiben, und die Mauer zu überwinden, macht den großen Sport erst aus. Kann man, wäre abschließend zu fragen, denn aus Sportsicht so rein gar nichts Löbliches über den Mauerfall sagen? Doch, und einer hat´s gleich 1989 getan. Thomas Häßler, Mittelfeldspieler, der die hohe Kunst des Schlenzers sehr wohl beherrscht und der als Kind im Westberliner Wedding unmittelbar an der Mauer aufgewachsen ist, sprach den wahrscheinlich klügsten Kommentar zum Mauerfall, der in der deutschen Öffentlichkeit zu vernehmen war: »Wir haben da als Kinder immer Fußball gespielt, und wenn wir den Ball über die Mauer schossen, war er weg. Jetzt können ihn sich die Kinder wiederholen.«

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