Zum Marx-Jubiläum ist Band 9/I des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus erschienen, der die Begriffe „Maschinerie“ bis „Mitbestimmung“ abdeckt. Ein Teilband also, der zwölfte dieses kolossalen Projekts, über 500 eng bedruckte Seiten stark und mit Artikeln, manchmal mehreren, zu fast 80 Stichwörtern, darunter gute alte Bekannte wie „Materialismus“, „Massenkultur“, „Methode“, „Mehrwert“ oder „Militarismus“, aber auch überraschende wie „Mensch-Natur-Verhältnis“, „feministische Militärkritik“ oder „materialistische Bibellektüre“. Gestemmt wird dieses gigantische Projekt, an dem sich über 800 Wissenschaftlerinnen und
lerinnen und Wissenschaftler beteiligen, vom kleinen Argument-Verlag und dem gemeinnützigen Institut für Kritische Theorie (InkriT). Staatliche Unterstützung gibt es nicht. Einzig die Rosa-Luxemburg-Stiftung hält dem Projekt die Stange. Man kann und sollte es durch Spenden unterstützen.Wie bespricht man so einen Lexikon-Band? Natürlich habe ich nicht alle Artikel gelesen, sondern Stichproben genommen. Soll man sich bei der Besprechung auf die Artikel konzentrieren, in deren Materie man sich kompetent fühlt? Das führte zu einer sehr einseitigen Auswahl. Kann man überhaupt diesen Teilband isoliert besprechen, oder muss man ihn einordnen ins Konzept des Gesamtwerks? Das hatte der Herausgeber Wolfgang Fritz Haug 1994 mit dem benjaminschen Begriff der „rettenden Kritik“ umschrieben: Eine selbstkritische Bestandsaufnahme mit dem Ziel, herauszufinden, welche Konzepte, Analysen, Theoreme des historischen Marxismus in seinen diversen Varianten noch Geltung beanspruchen dürfen – gerade auch für verändernde politische Praxis. Konzeptionell ist das Wörterbuch also das Gegenteil eines Marxismus-Museums. Den historischen Hintergrund bildeten natürlich die Umbrüche der letzten Jahrzehnte: das Ende des Staatssozialismus, die immer dringendere ökologische Problematik und die Einsprüche seitens der Feministinnen.Weltflucht und InnerlichkeitMan würde das Wörterbuch dann befragen, wie sich diese Ereignisse oder „Faktoren“ in den Artikeln niederschlagen. Ihre Spuren sind nicht zu überlesen. Am auffälligsten ist die Präsenz feministischer Problematiken, was nicht zuletzt der Mitherausgeberin und marxistischen Feministin Frigga Haug zu verdanken sein dürfte. Zu manchen Stichwörtern wird in einem zweiten Artikel speziell die feministische Diskussion referiert, im Fall etwa des Stichworts „Mehrarbeit“ die Problematik der Hausarbeit, die bei Marx kaum stattfindet.Ein anderes Beispiel ist der wunderbare Artikel von Antje Géra über Melancholie: Sie stehe „in der Regel nicht im Zentrum der Reflexionen marxistischer Theorie […]. Sie ist am Gegenpol zu den in der Arbeiterbewegung dominierenden heroischen Tugenden – Tatkraft, Entschlossenheit, Tapferkeit, Belastbarkeit und Zukunftsoptimismus – angesiedelt und gilt als nicht bewegungskonform. Weil emanzipatorische Praxis ein stets mit Rückschlägen und Scheitern konfrontiertes, fortwährendes Ringen um Hegemonie ist, scheint Melancholie mit ihren handlungshemmenden Dimensionen ein Ärgernis zu sein. Das ihr zugeschriebene emotionale Repertoire, das von momentanem Missvergnügen und Trauer über Furcht, Ohnmachts- und Unsicherheitsgefühle bis hin zu Hoffnungslosigkeit, Resignation und Verzweiflung reicht, unterliegt dem Verdacht der Passivität, Weltflucht und Innerlichkeit.“Demgegenüber besteht Géra auf der Angemessenheit, ja Notwendigkeit der Melancholie in bestimmten historischen Situationen: Es gehe „darum, die Niederlagen der Vergangenheit zum Gegenstand von Trauerarbeit zu machen, um so Zukunft zu gewinnen. Zumal: Mit dem Verschwinden der Staatssozialismen in Europa ist ein Bruch eingetreten, der nach der ‚Melancholie einer Linken‘ verlangt, ,die sich in den Kämpfen einer Gegenwart engagiert, ohne darum die Bilanzierung der angehäuften Niederlagen zu vergessen‘ (Enzo Traverso).“ Es komme darauf an, „das Leid nicht zu verdrängen, sondern illusionslos zu analysieren und darzustellen“.Exemplarisch dafür, wie die Tradition bearbeitet wird, heißt es zum Stichwort „Messianismus“: „Dass Messianismus den Marxismus immer wieder heimgesucht hat, ein messianisches Moment aber vom Streben nach einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und der Wahrheit nicht zu trennen ist, macht die historisch-kritische Sichtung dieses Feldes zu einer Frage marxistischer Zukunftsfähigkeit.“Im Text von Ton Veerkamp heißt es dann: „Die christliche messianische Figur, nach der Jesus alle ›Sünden der Welt‹, alle Fehlentwicklungen der Weltgeschichte auf sich genommen und so durch sein Leiden getilgt hat, stand Pate für die messianische Figur des Proletariats.“ Hätte man eine solche Passage in einem marxistischen Wörterbuch für möglich gehalten? „Die Geschichte ist der Kampf um die Veränderung der Welt, aber der Ausgang bleibt ungewiss. […] Es gibt keinen Marxismus mit einem Garantieschein für ein ständiges Fortschreiten vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Besseren, gar für ein gutes Ende der Geschichte. Hier liegt der Unterschied zum religiösen Messianismus“Wie viel sich verändert hat, kann man auch in Étienne Balibars Text zu den „Menschenrechten“ lesen; sie beginnen mit dem Satz: „Menschenrechte ist kein marxistischer Begriff“; sie galten der marxistischen Tradition nämlich eher als ideologische Verschleierung bürgerlicher Ausbeutungsverhältnisse. Balibar rekonstruiert sorgfältig die sehr verschiedenen Argumentationen von Marx und seinen Nachfolgern mit dem traurigen Tiefpunkt im Marxismus-Leninismus. Einen ähnlichen Tiefpunkt erlebt die Menschenrechtsproblematik heute seitens der westlichen Staaten, denen sie allzu oft dazu dient, militärische Interventionen zu legitimieren – ein schwieriges und umstrittenes Kapitel. Was also ist das Resümee? Lesen Sie! Als „Appetizer“ empfehle ich die Stichwörter „Micky Maus“ oder „Mätresse“. Aber Vorsicht – Sie können womöglich nicht mehr aufhören und verlieren sich in diesem unglaublichen Universum linker Gelehrsamkeit.Placeholder infobox-1