McDonald's subventionieren?

NIEDRIGLOHNDEBATTE Fragwürdige Annahmen und untaugliche Konzepte verbauen den Weg zu egalitären Alternativen

Es begann alles ganz harmlos. Die Europäische Kommission stellte 1998 fest, daß in der EU der Anteil der Erwerbs tätigen an der Gesamtbevölkerung deutlich geringer ist als in den USA oder in Japan. Die »Beschäftigungsquote« beträgt in diesen Ländern 74 beziehungsweise 75 Prozent, in der EU liegt sie bei 60,5 Prozent. Rein rechnerisch fehlen in der EU demnach 34 Millionen Jobs. Die Ursachen liegen nach Ansicht der Kommission vor allem im Dienstleistungssektor: In der EU sind dort nur 65,6 Prozent, in den USA hingegen 73,3 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt. Besonders schlecht schneiden Italien und Deutschland ab. Eine »Dienstleistungslücke« bestehe sowohl bei hochqualifizierten Diensten (Pflege und Gesundheitswesen, Kommunalwirtschaft, Unternehmensberatung) als auch bei gering qualifizierten Dienstleistungen (Restaurants, Hotelgewerbe, Einzelhandel). Die Politikempfehlungen der Kommission zielen allerdings fast ausschließlich auf die Bereiche mit niedrig qualifizierten Arbeitskräften. Dort seien die Lohnnebenkosten zu senken. Gekoppelt mit einer weiteren Liberalisierung der Produkt- und Dienstleistungsmärkte, könne so die Schwarzarbeit zurückgedrängt und für mehr Beschäftigung gesorgt werden.

Niedriglohn und »Dritter Weg«
Der Vorschlag einer von Kanzleramtschef Bodo Hombach initiierten »Benchmarking-Gruppe« um die Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck und Rolf Heinze vereindeutigt diese Überlegungen aus Brüssel. Bis zu einem Monatsverdienst von 1.500 DM sollen die Beschäftigten und ihre Arbeitgeber von allen Sozialabgaben befreit werden. Bis zu einer Verdienstgrenze von 2.800 DM soll der Staat Zuschüsse zur Sozialversicherung zahlen, die mit steigendem Gehalt geringer ausfallen. Die Gruppe plädiert für eine »duale Wirtschaft«: qualifizierte Berufsarbeit, Flächentarif und Kündigungsschutz sollen nur noch für den industriellen Bereich gelten, nicht mehr für den expandierenden Dienstleistungssektor. Mit einem Mindestlohn wollen sie die Lohnentwicklung nach unten abfangen. Die Mehrheit der bündnisgrünen Bundestagsfraktion propagiert inzwischen ebenfalls die Niedriglohnstrategie. Der Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch möchte allerdings weniger Subventionen für diesen Bereich bereitstellen als die »Benchmarking-Gruppe« von Kanzleramtschef Bodo Hombach.

Hombachs Vision eines »Dritten Wegs« nimmt beim Bündnis für Arbeit Kontur an. Denn das Pendant zum staatlich subventionierten Niedriglohnsektor ist eine »aktivierende« Arbeitsmarktpolitik besonderer Art. Das Grundrecht auf Freiheit der Berufswahl sowie der Qualifikationsschutz für Erwerbslose sollen durchbrochen werden, um einen Arbeitszwang im Niedriglohnsektor zu etablieren. Wer als qualifizierte Ingenieurin, Sachbearbeiterin oder Facharbeiter keine Stelle findet, soll sich gefälligst mit einem Job als Fensterputzer, Hausmädchen oder Toteneinpacker bescheiden.

Im Unterschied zur reinen Konfronta tionspolitik des Neoliberalismus Henkelscher Prägung setzt das Bündnis für Arbeit auf einen neuen Korporatismus. Die Gewerkschaften sollen nicht einfach plattgemacht, sondern eingebunden werden. Der »Dritte Weg« zwischen Marktradikalismus und staatlicher Regulierung besteht darin, die Lohnkosten zwar deutlich zu senken, aber zugleich mit staatlichen Subventionen dafür zu sorgen, daß die Niedriglöhner nicht allzusehr unter das Existenzminimum fallen. Der »Dritte Weg« zielt so auf eine Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln.

Dienstleistungswüste Deutschland?
Die Behauptung, nur ein Niedriglohnsektor könne einen wesentlichen Beitrag zum Abbau der Massenerwerbslosigkeit leisten, ist durchaus umstritten. So meint beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), die für Deutschland festgestellte »Dienstleistungslücke« beruhe auf Abgrenzungsproblemen der Wirtschaftsstatistik: Der Dienstleistungssektor in den USA erscheint größer, weil in Deutschland industrienahe Dienstleistungen dem Industriesektor zugerechnet werden und kommunale Dienste in weit größerem Maß dem Staatssektor. Die Dienstleistungslücke existiere »noch nicht einmal im Bereich einfacher Dienstleistungstätigkeiten, wie zum Beispiel in der Gastronomie, wenn man die von der amtlichen Statistik unterschätzten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einbezieht.« Fazit des DIW: »Eine Lösung des derzeitigen Beschäftigungsproblems (kann) somit nur mit einer Strategie gefunden werden, die unabhängig von der sektoralen Entwicklung zu einer Erhöhung der Beschäftigungsmöglichkeiten führt.«

Erkenntnisse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), einer der Bundesanstalt für Arbeit angegliederten Einrichtung, lassen ebenfalls Zweifel an der Richtigkeit des Hombach'schen Ansatzes aufkommen. Für die große Masse der (oft älteren) Langzeitarbeitslosen seien viele typische Jobs im Niedriglohnsektor gesundheitlich nicht zumutbar, man denke nur an die Gastronomie. Bleiben die Jugendlichen, die dann befristete Zeit Jobs ausüben, bevor sie sich nach anderen Möglichkeiten umsehen. Wäre es hier nicht sinnvoller, Qualifikation und Ausbildung junger Leute zu fördern, anstatt sie an eine Aneinanderreihung anspruchsloser, schlecht bezahlter Tätigkeiten zu ketten?

Egalitäre Alternativen
Interessanterweise verzeichnete gerade der Bereich qualifizierter Dienstleistungen in Westdeutschland zwischen 1994 und 1996 die höchsten Zuwächse bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten: 14 Prozent im Gesundheitswesen, 27 Prozent bei den Rechtsberufen und 17 Prozent bei den Organisationen ohne Erwerbscharakter. Besonders dynamisch könnten sich in Deutschland Tätigkeiten im Bereich der produktionsbezogenen Dienste entwickeln, so etwa beim Energie- und Materialsparen. Damit verbunden wären eine längere Lebensdauer der Produkte, mehr beschäftigungsintensive Reparaturen und mehr individuell gefertigte Produkte statt uniformer Massenware. Das wiederum erfordert gut qualifiziertes und gut bezahltes Personal. Der Ausbau qualifizierter produktions-, infrastruktur- und personenbezogener Dienste hat demzufolge ein hohes Beschäftigungspotential und stellt eine egalitäre Alternative zum Niedriglohnsektor dar.

Das Gegenargument von Hombach Co. lautet, damit sei den niedrigqualifizierten Erwerbslosen nicht zu helfen. Empirisch spricht allerdings wenig für die These, ein breiter Niedriglohnsektor baue die Erwerbslosigkeit der Geringqualifizierten ab. In den USA und Großbritannien wurden bekanntlich die Löhne für einfache Arbeit drastisch gesenkt. Dennoch waren Geringqualifzierte in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren in den USA 3,5 mal und in Großbritannien 5,3 mal so häufig erwerbslos wie hochqualifizierte. In der Bundesrepublik mit ihren angeblich so »starren« Arbeitsmärkten lag dieser Faktor dagegen nur bei 2,6.

Naiv ist auch ein weiteres Argument der Niedriglohn-Befürworter. Geringqualifizierte personenbezogene Dienstleistungen sollen angeblich viele Arbeitsplätze schaffen, weil es dort kaum Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität gebe. Was aber passiert bei den riesigen Einkaufs- und Erlebniszentren, Pauschalreisen, Hotelketten, Direktbanken und -versicherungen oder der Systemgastronomie von McDonald's bis Mövenpick? Sie sind erfolgreich und wachstumsstark, weil sie hohe Arbeitsproduktivität, Selbstbedienung und Niedrigeinkommen kombinieren. Warum sollten ausgerechnet die Niedriglöhne dieser Branchen sowie für Haushaltshilfen und Gärtner der Besserverdienenden durch Steuermittel subventioniert werden? War es nicht ein Ziel von Rot-grün, die Unternehmenssubventionen abzubauen? Um nichts anderes geht es hier: zwischen 15 und 30 Milliarden DM sollen aus den Mitteln für Arbeitsmarktpolitik oder aus der zweiten Stufe der Ökosteuer umgelenkt werden, um den Niedriglohnsektor zu erweitern - zum Wohle der Unternehmen und zu Lasten der breiten Masse.

Wenn schon an Subventionen in diesem Ausmaß gedacht wird - warum schafft man damit nicht neue Arbeitsplätze im Dritten Sektor und anderen Bereichen öffentlich geförderter Beschäftigung (Umweltsanierung, Stadterneuerung, Recycling und Abfallvermeidung), die für Geringqualifizierte durchaus geeignet sind und gleichzeitig die Chance zur Weiterqualifizierung beinhalten? 15 Milliarden DM würden reichen, um so rund eine Million neuer Jobs zu schaffen. Ebenso könnte die breite Förderung von Jobrotation die Integration von Langzeiterwerbslosen verbessern. Auch eine wirksame Steuerentlastung der unteren Einkommensgruppen wäre wünschenswert - nicht wegen unmittelbarer Beschäftigungseffekte, sondern um Schwarzarbeit einzudämmen und um die Massenkaufkraft zu stärken. Diese Alternativen sind auch volkswirtschaftlich viel sinnvoller, weil sie aufgrund ihrer eher egalitären Verteilungswirkung die Binnennachfrage beleben.

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