"Medea" aus Wien in Berlin

Bühne Seiner zerrütteten Ehe steht der smarte Geschäftsmann (Roland Koch) mit Vorschlägen zu Unterhalt und Sorgerechtsregelungen, also mit säkularisierter ...

Seiner zerrütteten Ehe steht der smarte Geschäftsmann (Roland Koch) mit Vorschlägen zu Unterhalt und Sorgerechtsregelungen, also mit säkularisierter westeuropäischer Ratio gegenüber. Seine Frau (Sylvie Rohrer) mahnt den Eheschwur an, erinnert an den Zorn der Götter und verflucht am Ende ihren Gatten. Zu düsteren Elektrosounds leert die Frau, die sich erst später selbst als Medea erkennt, mit wildem Schrei und flatterndem Haar den Inhalt einer Kanne in ihr Glas. Und in der Betrogenen wird die Zauberin Medea sichtbar. Die Wucht ihrer Verzweiflung wirft dunkle Schatten auf das Ende voraus.

Die Inszenierung, die vor gut einem Jahr in Wien herausgekommen jetzt in der Berliner Spielzeit Europa zu sehen war, entwirft das Psychogramm einer hintergangenen Ehefrau, deren anfangs gelöster Ausdruck zunehmend der Verwirrung weicht. Immer unverschämter wird die Fremde von der hässlichen Fratze einer grundlosen Feindseligkeit angeglotzt. Das Ehepaar Tenor (Barbara Petritsch, Michael Gempart) lässt kommentarlos ein Glas mit Tabletten stehen, mit denen Medea später ihre Kinder töten wird. Das von Tenors vermittelte Hausmädchen (Mereike Sedl) bemächtigt sich der Kleider und des Ehemannes ihrer Herrin, und aus dem Telefon dringt das schwere Atmen eines anonymen Anrufers.

Ungetrübt erschien das Glück des Neuanfangs. Eine Wohlstandsfamilie im Wiener Designerheim. Das schrille alte Ehepaar, von dem die Immobilie abgekauft wurde, kommt dann und wann vorbei. Die Tenors entpuppen sich als Strippenzieher einer perfiden Verunsicherungsmaschinerie, in der sich Medea und Jason schon bald verfangen. Tenors wissen mehr. Erst als Frau Tenor die Betrogene mit Medea vergleicht, legt sich ihr Name und mit ihm das ganze Ausmaß der Verzweiflung einer Verbannten auf die Protagonistin. Alles Weitere passiert wie von selbst.

Doch nicht als rasende Lenkerin des von Helios gesandten Drachenwagens erscheint Medea ihrem Gatten nach der Ermordung der gemeinsamen Kinder. Schlafend, unendlich traurig findet er sie, als er zum Abschiedsabend mit seiner auf einmal hinfällig gewordenen Geliebten das ehemalige Heim betritt. Die kleinen Söhne hatten zuvor auf Mutters Schoß sitzend brav ihre Tabletten eingenommen.

Sehr frei haben Grzegorz Jarzyna und sein Autor Michal Walcak den Stoff für ihr Burgtheater-Projekt bearbeitet, um ihn in den sozialen Realismus eines Bürgerdramas zu überführen. Der mythische Hintergrund fungiert als Resonanzraum einer namenlosen Verstörtheit der Protagonistin. Und es gelingt, dem Drama der betrogenen Ehefrau die überzeitliche Dimension zu verleihen, die alle Faszination des Abends ausmacht.

Sylvie Rohrer wurde im November für die Rolle der Medea mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet. Wie sie ihre Umgebung in sich aufnimmt, sich trotz Fremdkörpergefühl einfügen will und doch schon zu Beginn aus heiterem Himmel von einem unbegreiflichen Schrecken erfasst wird, das spielt Rohrer mit feiner Zurückhaltung und Intensität. Die Stimme aus dem Telefon gehört Wolfgang Michael, der als stark modifizierter Ägeus in einem Moment der Verlassenheit mit seinen afrikanischen Freunden vorbeikommt, um Medea zu trösten. Es scheint, als hätten sich bei diesem multikulturellen Fest all jene zusammengefunden, die nicht dazugehören. Alle, die - anders als der selbstentfremdete Jason, der sich mit seiner halbnackten, karrieredienlichen Geliebten in den Ecken herumdrückt - nichts zu verlieren haben, aber frei sind von den Zwängen des Establishments.

West und Ost, High Society und Unterprivilegierte - die Stärke des Abends liegt in der Erklärungsabstinenz. Und in der Souveränität, mit der ein Mythos zitiert, aber nicht plump in die Gegenwart übertragen wird.

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