Influencer in die politische Bildung!

Antisemitismus Die größte Verbreitung antisemitischer Inhalte findet nicht in Moscheen statt, sondern in den sozialen Medien
Ausgabe 20/2021
Szenen von einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin-Neukölln. Immer wieder kam es hier auch zu antisemitischen Ausfällen
Szenen von einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin-Neukölln. Immer wieder kam es hier auch zu antisemitischen Ausfällen

Foto: Karsten Koall/Getty Images

Erneut eskaliert die Lage in Nahost – und wieder beschäftigen wir uns mit der Frage, wie es mit dem Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland steht. Wir wiederholen, was wir zuletzt nach den antiisraelischen Demonstrationen während des Gazakrieges 2014 und dann 2017 nach der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem getan haben. Wieder werden Antisemitismus- und Radikalisierungsexperten in Studios zugeschaltet. Wieder werden die islamischen Verbände aufgefordert, sich zu distanzieren. Wieder wird von einem importierten Antisemitismus gesprochen. Wieder verharmlosen manche das Ausmaß des Antisemitismus unter Muslimen mit der Floskel, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. In einigen Wochen flacht die Debatte dann ab. Bis zur nächsten Runde. Lernkurve: null.

Es ist kein Trost, aber: Antisemitische Proteste im Zuge des Nahostkonflikts sind ein globales Phänomen. Auch in den USA, Frankreich und England wurden auf Demos judenfeindliche Parolen skandiert, von Muslimen und von Nichtmuslimen. In vielen muslimischen Gemeinschaften weltweit ist der Hass auf Israel ein Phänomen, das die Zugehörigkeit zu einer imaginierten globalen muslimischen Identität stärkt. Diese imaginierte Zugehörigkeit markiert dabei eine Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft in den westlichen Ländern, in denen die reale Zugehörigkeit von Muslimen immer wieder infrage gestellt wird.

Bisher zeigen weder die Verurteilungen von Antisemitismus seitens der islamischen Verbände noch das politische Entsetzen von links bis rechts oder die mediale Empörung Wirkung. Die größte Mobilisierung und Verbreitung antisemitischer Inhalte findet nicht in Moscheen, wie oft gedacht wird, sondern in den sozialen Medien statt. Influencer mit Hunderttausenden Followern, die sonst für Kosmetikprodukte werben, agitieren offen gegen „die Zionisten“, teilen grausame Fotos von ermordeten palästinensischen Kindern und lassen ihre Follower abstimmen, ob wir es mit einem neuen Holocaust zu tun haben.

Wenn wir dagegen etwas tun wollen, sollten wir genau hier ansetzen. Junge Menschen müssen in ihren (digitalen) Lebenswelten erreicht werden. Das schaffen nicht Verbandsfunktionäre, sondern etwa muslimische und migrantische Fußballer, Entertainerinnen oder Rapper, die die Grenze zwischen Solidarität mit den Palästinensern und Antisemitismus an ihre Follower vermitteln. Auch die Politik muss reflektieren, warum ihre Empörungsrituale so wenig Wirkung entfalten. „Kein Platz für Antisemitismus“ ist oft ein Lippenbekenntnis; Israelflaggen an Regierungsgebäuden tragen kaum zum Verständnis der Komplexität des Nahostkonflikts bei. Auch die vielschichtigen Verstrickungen und unterschiedlichen Solidaritäten innerhalb der deutschen Migrationsgesellschaft werden durch reine Verurteilungen antisemitischer Vorfälle nicht erhellt.

Um Israelhass unter Muslimen zu begegnen, ist es nötig, die Perspektive vieler junger Muslime nachzuvollziehen und zu verstehen, warum sie sich mit der palästinensischen Zivilbevölkerung verbunden fühlen. Es wäre wichtig, ihre Solidarität als legitim anzuerkennen und nicht pauschal als antisemitisch zu verurteilen. Das Ziel wäre, das Freund-Feind-Denken abzubauen, Zwischentöne zuzulassen. Eine solche Haltung wäre übrigens nicht nur für Muslime, sondern für die Gesamtgesellschaft wichtig.

Saba-Nur Cheema ist Leiterin der pädagogischen Programme der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt a. M.

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