Mehr Haß als in der Hölle

NORDIRLAND Der Oranier-Orden will den Friedensprozeß noch immer zum Teufel schicken

Was, um Himmels willen, hat der liebe Herrgott bei diesen beiden Männern bloß angerichtet? Da sitzen sie ordentlich gekleidet und sauber gekämmt in einer Ecke des mit Segeltuch und Plastikfolie abgedichteten Verschlags und würden am liebsten im Boden versinken. Das Protestieren - soviel wird sofort klar - ist ihre Sache nicht. Verlegen betrachten sie die Bretterwand, und ihre Antworten sind, sofern sie überhaupt reagieren, kaum hörbar. Welch dumpfe Schuld hat diese Seelen wohl in solche Demut getrieben? Oder trauen sie einfach dem Neuankömmling nicht?

Vielleicht ist es ihnen aber auch gleichgültig, was andere von jenem Kampf halten, mit dem sie Nordirland gerade in die nächste große Krise stürzen. Und überhaupt, wozu reden, da doch der Aufenthaltsort alles erklärt? Das Behelfszelt, über dem der Union Jack und die Ulster-Fahne mit der blutroten Hand flattern, steht an der Friedhofsmauer der Himmelfahrtskirche von Drumcree.

Harold Gracey, dessen Wohnwagen hinter dem Gotteshaus steht, ist ebenso wortkarg. Man habe den Fremden genau beobachtet, um zu sehen, ob er sich von »denen da unten« hat »Lügen« erzählen lassen - mehr will er erst einmal nicht sagen. »Die da unten« sind die Bewohner des katholischen Viertels an der Garvaghy Road - in der Nähe wurden kürzlich zwei Katholikinnen umgebracht. Wer weiß, vielleicht sinnt die IRA schon auf Vergeltung. Auf der Hut müsse man derzeit sein, meint Gracey, der Großmeister des protestantischen Oranierordens von Portadown, und kommt plötzlich in Fahrt - die Terroristen hätten sich ja schon fast an die Regierung gebombt! Wo auf der Welt gibt es denn so was! Und daß alle durch die Garvaghy-Road gehen dürften, nur er und seine Mitstreiter nicht, sei doch ein sicheres Zeichen dafür, daß finstere Zeiten am Werk seien(*).

An diesem Nachmittag sind Gracey und die beiden Kirchgänger im Zelt die einzigen Posten vor Drumcree. Gegen Abend indes kommen die ersten Autos aus Portadown, später trifft eine Abordnung aus der Grafschaft Tyrone ein, und kurz nach acht haben sich rund 200 Männer bei der Kirche versammelt. Manche tragen purpurfarbene Schärpen, andere haben ihren Bowlerhut aufgesetzt, dann spielen die Trommler und Flötisten der Oranier-Loge aus Tyrone das protestantische Triumphlied Sash, Kirchenlieder und Marschgesänge folgen. 200 Meter weiter unten, am Fuß des Hügels, haben Polizisten die Straße abgeriegelt. Hier gibt es kein Durchkommen, also bleiben die Demonstranten oben, reden und warten. Kurz nach Mitternacht ist der 62 Jahre alte Harold Gracey wieder allein - aber nur bis zum nächsten Morgen.

Siebeneinhalb Minuten

In den letzten elf Monaten hat es über 200 Kundgebungen dieser Art gegeben, manchmal mit 50, manchmal mit 5.000 Teilnehmern. Und nicht immer enden sie so friedlich wie an diesem Tag - häufig kommt es zu kleineren Scharmützeln mit der Polizei (die doch eigentlich immer »ihre« Polizei war), gerade jetzt auch zu veritablen Straßenschlachten mit Steinen und Brandflaschen, Hartplastik-Geschossen und Knüppeleinsatz. Denn seit dem 5. Juli 1998 will der Oranier-Orden von Portadown endlich die Parade zu Ende marschieren, die vor einem Jahr durch ein Großaufgebot an Polizei und Armee verhindert wurde.

Seit vier Jahren stehen Drumcree und die Garvaghy Road im Zentrum der Aufmerksamkeit - die Verhältnisse in der nordirischen Kleinstadt Portadown sind zu einem entscheidenden Gradmesser für das politische Klima in Nordirland geworden. Nirgendwo sind die Erschütterungen des protestantischen Gemüts genauer zu registrieren als in dieser Zitadelle des Unionismus. Denn stets am Sonntag vor dem 12. Juli zogen »Oranier« durch die Garvaghy Road, an deren Rändern eine irisch-nationalistische Gemeinde lebt.

Am 12. Juli feiern die Unionisten den Sieg von Wilhelm von Oranien über die Truppen seines katholischen Rivalen Jakob II. in der Schlacht am Boyne 1690 - nur im letzten Jahr kamen sie nicht durch, und diese Schmach steckt tief. Vor dem Waffenstillstand zwischen loyalistischen und republikanischen Paramilitärs konnten Konflikte um diese Rituale nur eine untergeordnete Rolle beanspruchen, jetzt aber geht es um nicht weniger als »Freiheit oder Sklaverei« - »Leben oder Tod«. So jedenfalls drückt es der protestantische Kirchengründer und Politiker Ian Paisley aus, der gerade bei der Europawahl wieder die meisten Stimmen in Nordirland erhalten hat.

Die Garvaghy Road ist eine breite Straße, viel zu breit für das bißchen Verkehr einer Kleinstadt. Die irische Trikolore, die an allen Laternenpfählen hängt, signalisiert, wer in den billigen Sozialbauten beidseits der Einfallstraße wohnt. Rund 6000 Katholiken haben sich hier niedergelassen, die Hälfte der Erwerbsfähigen ist ohne Arbeit, eine Tankstelle gibt es, fünf Geschäfte, eine Pommes-frites-Bude, einen Friseur.

Nur siebeneinhalb Minuten dauert der Marsch durch diese 500 Meter lange Straße, sagt Harold Gracey. Siebeneinhalb Minuten pro Jahr - dagegen könne doch nur sein, wer ganz andere Absichten im Schilde führe. Sean Dunbar, 41 Jahre alt, Vater von drei Kindern und seit 20 Jahren arbeitslos, sieht das ganz anders. Er sitzt im winzigen Büro der Garvaghy Road Residents' Coalition, die zum Gemeindezentrum der katholischen Bevölkerung gehört. Das Community-Center ist von einem hohen Zaun umgeben und dient (je nachdem) als Kneipe, als Bingo-Halle, als Zentrum des Mieter-Vereins und einer Behindertengruppe. »Von wegen siebeneinhalb Minuten«, sagt Sean, »auf jeden Protestanten, der hier durchmarschiert, kommt ein Polizist. Und auf jeden Polizisten kommen zwei Soldaten - das sind mehr als viertausend Sicherheitsleute, die alle Seitenstraßen und Hauseingänge abriegeln. Mindestens einen Tag lang steht das Viertel dann unter Hausarrest.«

Ein' feste Burg

Von Drumcree zum oberen Ende der Garvaghy Road sind es zu Fuß zwölf Minuten, von dort in die Stadt nochmals zehn. Unten, wo die Teppich-Fabrik liegt (690 Beschäftigte, davon 90 katholisch), wird die Straße enger und loyalistisches Terrain, bevor sie unter dem Autobahnzubringer und der Bahnlinie Belfast-Dublin hindurch ins Stadtzentrum führt. Stadt scheint etwas übertrieben - 20.000 Menschen leben in Portadown - und auch das Wort Zentrum ist zu hoch gegriffen. Zwei Shopping-Center - dahinter die Hauptstraße mit Filialen der großen Ladenketten. Dazu einer Kirche, deren Glocken die Melodie des Luther-Chorals »Ein' feste Burg ist unser Gott« intonieren, und eine Baustelle an der Market-Street. Die haben die lokalen Handwerker der Continuity IRA zu verdanken, einer Abspaltung der IRA, die Anfang 1998 vier Häuser sprengte (die authentische IRA hatte 1993 an derselben Stelle mit dem gleichen Ergebnis gebombt).

Hundert Meter hinter der Kirche, an der Carleton Street, steht der ehrwürdige Backsteinbau der Orange Hall. Im lokalen Haupt quartier des Oranier-Ordens erläutert David Jones die Ziele seiner Vereinigung. In der Eingangshalle hängen alte Fahnen, das erste Zimmer links ist rundum mit Holz getäfelt, alte, abgewetzte Bänke säumen die Wände. Eine gerahmte Fotografie der Queen dominiert die Längsseite, darunter und viel kleiner die Fotos der Oranier, die dem Orden seit mehr als 50 Jahren angehören. Den Fenstern gegenüber hängen das Porträt von Lord Mountbatten (dem einstigen Vizekönig von Indien, der 1979 von einer IRA-Bombe zerrissen wurde) und ein uralter Union Jack.

»Der Oranier-Orden wurde 1795 drei Meilen nördlich von Drumcree gegründet«, beginnt David Jones seine Geschichtslektion. Schon damals drohte Gefahr; die katholischen Einwohner Irlands erhoben sich gegen die protestantischen Siedler (die ihnen alle Rechte und das gute Land genommen hatten, aber das erzählt Jones nicht), welche daraufhin den Geheimbund gründeten; die Loyal Orange Lodge Nº 1 entstand hier in Portadown (inzwischen verzeichnet der Distrikt 32 Logen).

»Einfache Leute haben ihn gegründet, und zu diesen Wurzeln kehrt der Oranier-Orden nun zurück«, meint Jones. Im letzten Jahrhundert übernahm der Landadel das Kommando, später waren Fabrikanten und Politiker (alle nordirischen Premierminister gehörten ihm an) tonangebend. Die Logen - ihre Sitzungen beginnen immer mit Gebet und Bibelspruch - stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl; da saßen der Unternehmer neben dem Arbeiter, der Bürgermeister neben dem Knecht, der Arzt neben dem Handwerker. Und alle waren Brüder - eine Volksgemeinschaft - und halfen einander, auch mit Jobs. Mit den Troubles und dem Niedergang der alten Industrie änderte sich dies, heute gehören dem 70.000 Mitglieder starken Orden vor allem Arbeiter an.

»Unser Grundprinzip ist die Durchsetzung bürgerlicher und religiöser Freiheit.« Auch die Freiheit der anderen? »Natürlich«, sagt David Jones, »wir sind keine antikatholische Organisationen. Niemand darf getötet werden, nur weil er Katholik ist.«

Aber Männer mit katholischen Frauen werden nicht aufgenommen.

»Alle dürfen nach ihrer Fasson selig werden«, sagt Jones. Freiheit müsse sein, aber eben diese sei bedroht, wenn freie Menschen nicht mehr frei durch die Straßen ziehen dürften. Schlimmer noch: Durch das Verbot des Umzugs habe der Staat die »illegalen Proteste der Katholiken« legalisiert und die »legale Parade« verboten.

Der Robert-Hamill-Tanz

Etwa 80 Meter von der Carleton Orange Hall mündet die Thomas Street in die Market Street. Hier, mitten im Stadtzentrum von Portadown, wurde am 27. April 1997 der Katholik Robert Hamill zu Tode getreten. Der 25-jährige Vater zweier Kinder (seine Frau erwartete gerade das dritte) verließ kurz nach Mitternacht mit einem Freund und zwei Cousinen die nahe gelegene Disco; die vier warteten vergeblich auf ein Taxi, sahen dann den Polizeiwagen, der 40 Meter entfernt parkte, glaubten sich also sicher und beschlossen, die 500 Meter bis hinter die Bahnlinie, wo das katholische Quartier beginnt, zu Fuß zu gehen. Doch unterwegs wurden sie plötzlich von etwa zwei Dutzend Loyalisten attackiert. Die schlugen Hamill und seinen Freund nieder, traten beide mit Stiefeln und sprangen ihnen auf den Kopf. Erst dann schritten die Polizisten ein. Hamills Freund überlebte schwer verletzt - Robert starb nach einer Woche im Koma.

Ein paar Tage nach der Beerdigung sah Hamills Familie auf benachbartem, loyalistischem Gebiet eine gespenstische Aufführung. Jugendliche inszenierten auf offener Straße einen Tanz, bei dem sie die Todestritte imitierten. Die Anwohner standen dabei und klatschten. (Im März 1999 sprach ein Gericht den letzten Verdächtigen in dieser Sache frei. Die Polizei habe bei ihren Ermittlungen eine »merkwürdige Ineffizienz« an den Tag gelegt, sagt der Richter.)

In den vergangenen drei Jahren wurden in und um Portadown sieben Menschen getötet. 1996 erschoß die LVF (**) den katholischen Taxifahrer Mike McGoldrick. Im Jahr danach starben Darren Murry und Robert Hamill. 1998 traf es Adrian Lamph und den Polizisten Frankie O'Reilly. 1999 wurden Rosemary Nelson und Elizabeth O'Neill zerfetzt. Elizabeth O'Neill starb, als eine Bombe in ihr Wohnzimmer geworfen wurde; sie war eine Protestantin, die einen Katholiken geheiratet hatte. Während eines Jahres wurden in Portadown zwei Dutzend Familien aus ihren Vierteln vertrieben. Seit den Kriegen in Jugoslawien nennt man das hier »ethnische Säuberung«.

Rosemary Nelsons Tod ging durch die Weltpresse. Die anerkannte Anwältin im benachbarten Lurgan vertrat unter anderem die Belange der Garvaghy Road-Leute (sie stritt auch für Sean Dunbar, dem 1996 Polizisten einen Arm zertrümmert hatten). Anfang März detonierte unter ihrem Wagen eine Bombe; die Vermutung, daß Polizisten die Finger im Spiel hatten, wollte sogar die RUC-Führung nicht ganz von der Hand weisen. Rosemary Nelson starb nicht sofort, die Bombe hatte ihre Beine weggerissen, sie verblutete auf dem Weg ins Hospital.

An einer Mauer in Portadowns Stadtpark ist der Spruch zu lesen: »No legs Rosemary, haha« - »Hier gibt es mehr Haß als in der Hölle«, sagt eine Passantin

Am oberen Ende der Obins Street - eine der Aufmarschrouten der »Oranier« - liegt die Drumcree High School, die katholische Mittelschule von Portadown. Der Rektor Sean O'Neill hat kein leichtes Amt. Die Hälfte der 700 Schüler kommt aus ärmlichen Verhältnissen (Maßstab dafür ist das Gratis-Mittagessen, das nur Kinder erhalten, deren beide Elternteile arbeitslos sind). Die meisten der ärmeren Kinder kommen aus der Garvaghy Road. »Sie fühlen sich als Menschen zweiter Klasse«, bemerkt O'Neill, »und ich kann dem kaum widersprechen. Nehmen Sie den Hamill-Fall - wäre die Sache andersherum gewesen, hätte man alle Verdächtigen längst verurteilt.

Oben in ihrem Quartier könnten die Zöglinge der Drumcree High School einigermaßen sicher leben, aber es gibt eine Grenze. O'Neill zieht auf einem Blatt Papier eine Linie, die Portadown nördlich der Bahnlinie durchschneidet. Südlich dieser Linie sind das Schwimmbad, die städtische Bibliothek, das Arbeitsamt, das Freizeitzentrum, das Technische College. O'Neill: »Dieses College hat bisher kein einziger unserer Schüler besucht.« Die unsichtbaren Mauern beherrschen das Leben in Portadown. »Unsere Jugendlichen meiden einen Schritt über die Grenze, denn auf der anderen Seite könnten sie angegriffen, beleidigt oder bespuckt werden.« Ähnlich hatte sich auch Sean Dunbar von der Garvaghy Road Residents' Coalition ausgedrückt, als er meinte, außerhalb seines Viertels käme er sich vor wie ein Leuchtturm: Immer sei der Kopf in Bewegung, nach links schauen, nach rechts, nach hinten. - Sean O'Neill hat jetzt mit den Rektoren protestantischer Mittelschulen ein neues Projekt begonnen: Video-Konferenzen. Da können sich die Schüler sehen und miteinander reden, ohne in direktem Kontakt zu sein.

(*)Die vorwiegend protestantischen Unionisten befürworten die Union mit Britannien, die vorwiegend katholischen Nationalisten eine Vereinigung der irischen Nation. Militanter sind die Loyalisten (sie kämpfen gegen Dublin und die »katholische Bedrohung«) und die Republikaner (sie kämpfen gegen die britische Präsenz in Irland).

(**) Loyalist Volunteer Force

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