Mehr soziale Fantasie

Ambivalent Über Schlüsseltechnologien kann nicht im wissenschaftlichen Labor, sondern muss im Labor Gesellschaft entschieden werden

Am Freitag dieser Woche beginnt in Berlin die Internationale Konferenz "Einstein weiterdenken. Wissenschaft, Verantwortung, Frieden", die die von Einstein aufgeworfenen Fragen und Antworten mit dem heutigen Selbstverständnis der Wissenschaften konfrontieren will.

Wer sich die Physik zu Zeiten Einsteins vorstellt, denkt zunächst an geradezu revolutionäre Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbilds. Wer nun noch die zeitlnahe Evolutionsbiologie Darwins, die Psychoanalyse Freuds, die Plattentektonik Wegeners oder Watson and Cricks Entdeckung der Doppelhelix mit einbezieht, gewinnt ein Bild der Wissenschaft, das fest in der Tradition der Aufklärung verankert ist. Demnach ist Wissenschaft gegen Dogma, Aberglauben und Lehrbuchwissen angetreten. Sie eröffnete neue Perspektiven, ein neues Welt- und Selbstverständnis und neue technische Möglichkeiten.

Die besondere Verantwortung der Wissenschaft ergibt sich hiernach aus ihrer Fähigket, technische Möglichkeiten frühzeitig zu erkennen. Die Realisierung dieser Möglichkeiten jedoch liegt ihrem Tagesgeschäft fern. So blieb es der angewandten Physik und der Ingenieurskunst vorbehalten, die Relativitätstheorie und Quantenmechanik bis zur Atombombe zu entwickeln. Selbst in der Genetik war der Weg von der Grundlagenforschung bis zu ihren praktischen Anwendungen so weit, um zwischenzeitlich - etwa im Rahmen der Asilomar Konferenz - die Frage nach wissenschaftlicher Verantwortung zu stellen.

Im heutigen Wissenschaftsbetrieb ist diese klare Trennung von Grundlagenwissenschaft und angewandter Forschung nur noch selten auszumachen. So ist zwar beispielsweise von Nanowissenschaft und von Nanotechnologie die Rede, aber auch die Nanowissenschaft steht in der Pflicht, technische Anwendungen zu ermöglichen. Bei der Erforschung von "Grundlagenproblemen der molekularen Elektronik" wiederum soll der Elektronenfluss in Molekülen besser verstanden werden, damit eines Tages einzelne Moleküle auf Computerchips als kleinstmögliche Drähte dienen können.

Wissenschaft als Wirtschaftsfaktor

Selbst die Grundlagenforschung ist heute also weitgehend in langfristige Produktentwicklung eingespannt, weswegen sich die Rede von "Forschungsprojekten" eingebürgert hat. Zugleich bedeutet die Aufwertung von Nanoforschung, Biotechnologie, Informatik, Materialwissenschaft oder synthetischer Chemie, dass der Forschung relativ unmittelbare Innovationsimpulse abverlangt werden. Damit einher geht der viel beklagte Autoritätsverlust der Wissenschaften. Das Ideal, geistig unabhängig und kritisch überlieferte Weltbilder zu befragen, ist abgelöst worden von einer Universitätsforschung, die als Wirtschaftsfaktor begriffen wird und sich möglicherweise den politischen und ökonomischen Interessen ihrer Geldgeber unterordnet.

Die Berliner Tagung fordert uns nun auf, Einstein weiter zu denken. Unter den veränderten Bedingungen des heutigen Wissenschaftsbetriebs stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft neu. Dies setzt allerdings voraus, nicht nur den Verlust ihrer Unabhängigkeit und den Einbruch wirtschaftlicher Interessen zu beklagen. Stattdessen sollte darüber nachgedacht werden, welche Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume durch die gegenwärtigen Formen der Wissensproduktion eröffnet werden.

Nano-, Bio- und Informationstechnologien werden gemeinhin mit dem Begriff "Schlüsseltechnologien" gewürdigt. Die Metapher von Schlüssel und Schloss, Tür und Tor ist tatsächlich aufschlussreich, denn sie erlaubt, die Ambivalenzen von Risiko und Chance, Herausforderung und Verantwortlichkeit zu fassen.

Schlüsseltechnologische Forschung stellt gegenüber der Physik Einsteins nicht nur ein neues Kapitel der Wissenschaftsgeschichte dar, sie markiert auch einen Bruch mit klassischen Modellen der Technikentwicklung. Ihr Programm heißt nicht "Elektrifizierung der Gesellschaft", "Mann auf den Mond" oder "Sieg über den Krebs". Mit ihr verbindet sich die noch größere, dafür die viel unschärfere Erwartung, dass sie Schlüssel zur Bewältigung unserer Zukunftsprobleme findet. Irgendwie, so die Vorstellung, werden Schlüsseltechnologien alles verändern, eine neue industrielle Revolution einläuten und die herkömmliche Technik auf ganz neue Grundlagen stellen. Die industrielle Fertigung etwa soll nicht mehr wie ein Bildhauer aus reichlich Rohmaterial und mit entsprechend viel Abfall ein Endprodukt herausschälen, sondern wie ein Komponist nur genau die Atome und Moleküle zusammenfügen, aus denen sich das Endprodukt zusammensetzt. Der Verbund von Nano- und Informationstechnologie erzeuge eine technische Intimität, die den Menschen und seine Umwelt in ein überall sinnliches, überall intelligentes System zusammenschweiße.

Anders als bei klar definierten Programmen wie der bemannten Raumfahrt oder der künstlichen Intelligenz operieren Schlüsseltechnologien mit der Ambivalenz des Versprechens. Wer sich auf diese Forschung einlässt, verspricht immer schon zu viel und zu wenig, erregt Staunen darüber, was möglich ist und muss immer wieder daran erinnert werden, dass moderne Technik die Welt nicht magisch beherrscht, sondern rationale Kontrolle, begrenzte Problemlösungen, menschliche Autonomie ermöglichen soll. Angesichts dieser Ambivalenz ist es gut und richtig, dass unsere technische Zukunft in Science-Fiction-Romanen, im Feuilleton, im Zusammenprall von Technikfeindlichkeit und Innovationseifer diskutiert wird. Andererseits müssen alle Beteiligten versuchen, konkrete Zielsetzungen auch unabhängig von den dahinter vermuteten metaphysischen Programmen zu bewerten. Nicht um die Bio- oder Nanotechnologie im Allgemeinen geht es schließlich, sondern um künstliche Befruchtung, biologisch abbaubare Materialien, Energie aus Biomasse oder schadstoffresistente Pflanzen.

Neben die Ambivalenz des Versprechens tritt zweitens die Ambivalenz des Verstehens. Früher oder später sollen die Erkenntnisse der Grundlagenwissenschaft zu technischen Anwendungen führen. Ihren Platz nimmt heute zunehmend die schlüsseltechnologische Forschung ein. Sie folgt in die von den klassischen Disziplinen erforschten, durch hohe Komplexität gekennzeichneten Grenzbereiche und erwirbt dort die technische Grundkompetenz für eine Vielzahl spezifischer Anwendungen. Das komplexe Zusammenspiel physikalischer, chemischer, biologischer Prozesse in einer organischen Zelle wird dann beispielsweise als System, wenn man so will als Fabrik verstanden. Wer in der Lge ist, ihre "maschinellen" Zusammenhänge zu manipulieren, wird dort ganz neuartige Reparaturarbeiten vornehmen, vielleicht sogar selbst Zellen bauen können. Die Nanoforschung wiederum schlägt dort ihre Zelte auf, wo merkwürdige Quantenphänomene mit uns bekannten makroskopischen Regelmäßigkeiten überraschend interagieren. Sie will lernen, überraschende Material- und Systemeigenschaften technisch nutzbar zu machen. Da für Nanophänomene keine allgemeinen Gesetze gelten, kommen lokale Modelle und Computersimulationen zum Einsatz.

Ungeschützte Risikoabschätzung

Hier deutet sich an, was mit Ambivalenz des Verstehens gemeint ist. Eine theoretisch vielseitig gewappnete Forschung vermag komplexe Phänomene experimentell und im Modell zu beherrschen, kann ihre vielfältigen Wechselwirkungen und das Ausmaß der möglichen Überraschungen trotzdem nicht überschauen. Schlüsseltechnologische Forschung muss deshalb ihre Erzeugnisse bis in die Anwendungszusammenhänge hinein verfolgen. Die Gesellschaft ist das Labor, in dem Innovationen von Politikern, Konsumenten, Forschern, Bürgern nicht nur auf ihre Sozialverträglichkeit, sondern auch auf Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit geprüft werden. Da die Risikoabschätzung nicht schon vorab unter geschützten Laborbedingungen möglich ist, müssen transparente Prozesse gefunden und angeboten werden, die es auch einer risikoscheuen Gesellschaft ermöglicht, die möglicherweise irreversiblen Risiken zu prüfen und zu entscheiden, ob sie sich darauf einlassen will.

Als dritte Dimension sei schließlich die Ambivalenz der Nutzung genannt. Mit dem Begriff der Schlüsseltechnologie ist ja vor allem gemeint, dass sie neue Türen und Tore öffnen wird. Nicht enthalten in diesem Begriff ist jedoch, um welche Türen und Tore es sich dabei handelt. Der Erwerb technischer Grundkompetenzen allein reicht nicht aus, um der Forschung eine klare Zielrichtung und Bestimmung zu geben. Die Erfolgsstorys, in denen das kontrollierte Wachstum von Kohlenstoff-Nanoröhrchen stolz verkündet wird, ist ein Beispiel solcher orientierungslosen Forschung. Die Forscher versprechen zwar großen praktischen Nutzen, sind aber darauf angewiesen, dass sich dieses Potenzial in konkreten Nutzungszusammenhängen realisiert (Computerchips, medizinische Diagnostik, textile Fasern).

Unter Ambivalenz der Nutzung versteht man gewöhnlich, dass eine an sich brauchbare Erfindung auch militärisch, kriminell oder terroristisch missbraucht werden kann. Doch in unserem Zusammenhang geht es auch darum, dass technische Problemlösungen womöglich auch dort verfolgt werden, wo politische oder soziale Ansätze nachhaltiger wären. Sie bedeutet, dass das Potenzial kreativer Entwicklungen ungenützt bleibt, weil die Fantasie in den stereotypen Bahnen des Kleiner, Schneller, Billiger, Besser verfangen bleibt. Im Umgang mit dieser Art von Ambivalenz müssen alle Beteiligten mehr soziale Fantasie entwickeln.

Von Ambivalenz des Versprechens, des Verstehens, der Nutzung war die Rede. In allen Fällen gilt es, Risiken und Chancen so zu verdeutlichen, dass sich Forscher, öffentliche und private Geldgeber, Konsumenten und Staatsbürger ihren Herausforderung stellen können. Nicht weise vorausschauende, weil intellektuell privilegierte Wissenschaftler sind hier gefragt, sondern eine Forschungsgemeinschaft, die ihre Projekte von Anfang an sozial verorten kann und sich von öffentlichen Auseinandersetzungen nicht nur Förderung oder Widerstand verspricht, sondern Anregung, Zielsetzung und Rechtfertigung.

Prof. Dr. Alfred Nordmann lehrt an der TU Darmstadt Wissenschaftsphilosophie und beschäftigt sich mit Theorie, Geschichte und Dimensionen von Nanoforschung und gesellschaftlicher Konvergenz. Auf der Einstein-Tagung leitet er die Arbeitsgruppe "Neue gesellschaftliche Herausforderungen durch Schlüsseltechnologien".


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