Mein Heim ist meine Burg

Aus der Geschichte eines Moskauer Mietshauses Schöner unsere Höfe, mach mit!

Und außerdem danke ich dem Frühling dafür, dass mein Vaterland wenigstens noch lebt", brüllt ein Betrunkener vom Balkon des vierten Stocks meines Hauses in die Welt hinaus. Es handelt sich um eine Strophe aus einem derzeit sehr populären Rock-Song. Draußen herrscht matschiger Moskauer Spätherbst, der lange russische Winter steht uns erst noch bevor, und da denkt der Mann schon an den Frühling. Es ist spät, und patriotisches Gebrüll zu dieser Stunde bedeutet, sämtliche Nachbarn im Schlaf zu stören. Aber wir sind hier nicht in Deutschland, wir sind vielmehr in Russland - es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Mann und ein ganz gewöhnliches Haus, vollkommen normal für dieses Land. Wem soll man denn auch sonst danken, wenn nicht dem Frühling?

Ich kenne den Mann seit etwa 30 Jahren. Vom Sehen. Er weiß nicht, wie ich heiße, ich weiß nicht, wie er heißt. Aber wir grüßen uns, wenn wir uns zufällig begegnen. Ich habe einmal seiner Frau Geld geliehen, woraufhin er mich beschimpfte, weil seine Frau Alkoholikerin war und sich gerade auf Sauftour befand. Allerdings gab er mir auch das Geld zurück. Ein anderes Mal half er mir, meinen Kühlschrank aus dem Haus zu tragen und ihn in den Kofferraum meines "Schiguli" zu hieven, was gar nicht so einfach war.

Jeder Einwohner meines Hauses könnte wahrscheinlich Dutzende solcher Geschichten erzählen. Das Haus Nr. 5/2 an der Bolschaja Perejaslawskaja steht bereits 33 Jahre, von hier aus braucht man zu Fuß höchstens eine Dreiviertelstunde bis zum Kreml. Wir wohnen im Zentrum von Moskau. Eine Dreizimmerwohnung in unserem Haus kostet heute etwa 70.000 Dollar. 1971 hatten wir unsere Mietwohnungen noch unentgeltlich erhalten. Beim Einzug stießen wir einträchtig auf das Wohl von Lord Killanin an, damals Präsident des Internationalen Olympischen Komitees. Wie es hieß, war es vor allem ihm zu verdanken, dass Moskau 1980 Olympia-Stadt wurde. Killanin trägt somit die "Hauptschuld"daran, dass Dutzende von alten Holzbauten im Zentrum Moskaus abgerissen und an ihrer Stelle neue achtstöckige Häuser gebaut wurden.

Allerdings hatte er viele "freiwillige Helfer". Im Bezirk brannten alte Holzbauten plötzlich lichterloh, darunter auch das Haus, in dem ich wohnte: eine Gemeinschaftsküche für acht Familien, eine Gemeinschaftstoilette und Brennholz auf dem Hof. In einer nahe gelegenen Straße hatte der große russische Liedermacher Wladimir Wyssotzki seine Kindheit verbracht und in einem seiner Lieder hieß es: "Auf 38 Zimmerchen nur eine Toilette." Es war also durchaus zu verstehen, warum die Häuser in Flammen aufgingen. Alle wollten eine neue, eigene Wohnung. An die Namen von Siegern der Moskauer Olympiade 1980 kann sich kaum mehr jemand erinnern, aber Lord Killanin hat sich uns eingeprägt.

Sobald das neue Haus besiedelt war, begann der Baby-Boom. Mein Sohn kam allerdings schon 1971 zur Welt. Ihm hat später niemand mehr eine Wohnung geschenkt, er hat sie sich allein gekauft, sehr weit draußen. Das Geld dazu verdiente er sich in einer Coca-Cola-Fabrik. Inzwischen hat er selbst schon einen Sohn - und voller Schrecken denke ich manchmal, ohne Perestrojka und Marktwirtschaft müssten wir alle - meine Frau, meine Schwiegermutter, mein Sohn, seine Frau, der Enkel - zusammenwohnen. Und das auf 62 Quadratmetern. Der Mann, der vom Balkon aus brüllt, müsste eigentlich nicht nur dem Frühling danken.

In unserem Haus wohnen die verschiedensten Menschen: Ingenieure, Arbeiter, Ärzte, Verkäufer. Verbrecher hat es bei uns nie gegeben, dafür eine Prostituierte. Sie war die einzige Frau im Haus mit eigenem Auto. Alle haben wir uns gewundert, warum sie nie verhaftet wurde. Heute ist sie um die 60, eine gewöhnliche betagte Frau. Alle grüßen sie. Ich habe den leisen Verdacht, dass sie denkt, keiner wisse, dass sie mal Prostituierte war. Und wer weiß, wahrscheinlich hat unsere Hof-Magdalena längst für ihre Sünden gebüßt und Gott ihr verziehen. Wir als Nachbarn haben das längst getan.

Wir sind überhaupt etwas toleranter geworden, wie man heute gern sagt, wenn es um Nachsicht mit Mitmenschen geht. Im Hause wohnen zwei homosexuelle Paare. Früher hätte das Empörung ausgelöst, und die Betroffenen hätten ihre sexuelle Identität sorgfältig verbergen müssen. Heute achtet keiner mehr darauf. Man hat selbst Sorgen genug, sollen doch zwei Männer zusammenwohnen, das stört niemanden mehr. Die Mutter des einen von ihnen war allerdings den Tränen nah, als sie mir vom Leben ihres Sohnes erzählte.

Vielleicht holt uns auch deshalb die Nachsicht ein, weil wir alle inzwischen älter sind. Wie hatte man früher auf die Juden geschimpft, als sie familienweise nach Israel ausreisten! Man sagte ihnen ins Gesicht, sie seien Vaterlandsverräter. Sie aber nannten ihre Widersacher Antisemiten und sagten, wer bleibe, sei nur neidisch, weil ihm die Ausreise verwehrt werde - daher das Geschimpfe. Vor etwa zwei Jahren bekam ich eine Ansichtskarte von einem früheren jüdischen Nachbarn, einst war er Direktor einer Tapetenfabrik, heute fährt er in Amerika Pizza aus. Es gehe ihm gut, schreibt er, zu bereuen gäbe es nichts. Aus irgendeinem Grund will es mir scheinen, dass er sich nach seinen antisemitischen Nachbarn zurücksehnt.

Das Haus ist genauso gealtert wie wir selbst. Die Kanalisation ist alt, und wir müssen im wahrsten Sinne des Wortes das eigene Nest beschmutzen. In den Aufgängen stinkt es entsetzlich, und in den Kellern ist mal ein Wasserrohr-, mal ein Abflussrohrbruch verstopft. Die Ratten allerdings, die es früher hier nicht gab, scheinen die Keller ganz wohnlich zu finden.

Ein weiteres Ärgernis sind die Obdachlosen. Im Winter sind sie in Moskau besonders zahlreich und wollen nachts doch lieber in einem geheizten Aufgang übernachten. Letzten Endes war unsere Geduld zu Ende, wir sammelten Geld und ließen uns ein Zahlencode-Schloss in die eiserne Eingangspforte einbauen. Höchste Zeit übrigens, denn nach der Sprengung von zwei Moskauer Häusern, die den Tschetschenen zugeschrieben wird, war die Angst mit Händen zu greifen. Wir sind jetzt argwöhnisch, und sobald wir in unserem Aufgang Unbekannte sehen, rufen wir die Miliz, denn der Diebstahl ist eine fürchterliche Geißel der Moskauer. Auch in meine Wohnung wurde eingebrochen. Ich kam mit meiner Frau nach Hause - und in der Küche war die Miliz am Werke, von Nachbarn alarmiert. Gestohlen wurden nur ein Pelz meiner Frau, ein Videogerät, eine Musikanlage und ein paar Kleidungsstücke. Das Wenige, das meine Frau an Goldschmuck hat, wurde nicht gefunden, und auf ihrem Gesicht mengte sich Verzweiflung mit Freude. Allein in unserem Aufgang gibt es fünf ausgeraubte Wohnungen. Wir alle - die Betroffenen - haben vor der Tür nun zusätzliche Eisengitter angebracht. Trotzdem bin ich nervös, wenn ich die Wohnung um meiner Datsche willen für drei Tage verlasse.

Moskaus Oberbürgermeister Juri Lushkow meint, vor jeden Aufgang gehöre eine Videokamera. Überhaupt haben die Moskauer ihren OB gern. Erstens ist er ein ausgesprochener Feind von Herrn Tschubajs, der fortwährend die kommunalen Tarife erhöht, und zweitens ist Lushkow einer von uns, ein waschechter Moskauer, er liebt seine Stadt und hat viel Gutes getan. So sieht unser Hof heute herrlich aus: Bäume, ein Kinderspielplatz, Bänke, Schaukeln, Grünflächen. Der Hof siegte sogar im Wettbewerb "Schöner unsere Moskauer Höfe". Das Malheur ist nur, dass auf den Bänken Obdachlose schlafen und abends Jugendliche zusammenkommen, Bier trinken, ihre Notdurft gleich an Ort und Stelle verrichten und mitunter auch Sex treiben. Morgens fegen die Hofmeister dann die Kondome zusammen. Deshalb finden einige Einwohner, Lushkow hätte doch zuerst die Kanalisation ausbessern sollen, als sich mit Kosmetik zu befassen.

Bis zu einem gewissen Grade haben sie recht. Das Haus ist abbruchreif, davon reden schon alle. Und hoffen wie immer auf die Amerikaner. Die haben in der Nähe, im Botanischen Garten, eine Klinik gebaut. Wie es heißt, brauchen sie unsere Grundstücke. Viele sind schon bereit, an den Rand von Moskau zu ziehen, wo eine Wohnung komfortabler und die Luft außerdem frischer ist. Wer weiß, vielleicht wird unser Haus samt Grundstück verkauft, und wir werden alle glücklich auf einen reichen Amerikaner anstoßen. Selbstständig werden wir das Geld für eine neue Wohnung jedoch nicht mehr zusammenbringen können. Beinahe verstehe ich den brüllenden Mann, der schon glücklich ist, weil "das Vaterland wenigstens noch lebt".

Der Journalist Boris Kaimakow wurde in Moskau am Gospitalny Wal geboren, wohnte dann in der Samarski-Gasse und lebt jetzt in der Bolschaja-Perejaslawskaja-Straße.


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