Mein Lieblingsbuch und ich

Bücher Um die "Lust am Lesen" zu wecken, ist Ministerien, Verbänden und Instituten nichts zu kindisch. Magnus Klaue über penetranten Infantilismus in der Literaturpädagogik

Die Klage über das Büchersterben ist Schnee von gestern. Inzwischen entfachen Politiker und Prominente bei den Deutschen erfolgreich die Lust am Buch. Zum Bücherfrühling 2011 ist es so weit. Unter dem Motto „Deutschland liest“ planen diverse Bibliotheken, unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und vom Deutschen Bibliotheksverband, den nun bereits zum vierten Mal in Folge bundesweit stattfindenden Treffpunkt Bibliothek, der rechtzeitig zur Buchmesse im Herbst wieder einmal „Lust am Lesen“ wecken will. Auch als schöngeistig geltende Kulturarbeiter wie Elke Heidenreich, die ihr Publikum zum Lesen! ruft wie Soldaten zum Appell, oder Iris Berben, die auf ihren Lesungen bereits Anne Frank und Joseph Goebbels in einen „Dialog“ hat treten lassen, sind mit dabei.

Die im Rahmen des Treffpunkts Bibliothek geplanten Veranstaltungen haben jeden bildungsbürgerlichen Kulturanspruch längst hinter sich gelassen. Von der glücklichen Selbstvergessenheit einsamer Lektüre wissen ihre Organisatoren ebenso wenig wie von der Zweckfreiheit des Lesens, das aus dem Lebenszusammenhang herausfällt und nicht als sinnvolle Freizeitaktivität eingehegt werden kann. Stattdessen bemühen sie sich mit dem Eifer sozialdemo­kratischer Volkserzieher, den Menschen die „Nützlichkeit“ und den „Genuss“ des Lesens schmackhaft zu machen.

Die beliebteste Kategorie des „Lesefrühlings“, der immer nahtloser in den „Leseherbst“ übergeht, dürfte daher auch diesmal die des Lieblingsbuchs sein. Schon in den vergangenen Jahren hatten Politiker, Promis und sonstige „Aktionspaten“ dort ihr jeweiliges Lieblingsbuch vorgestellt. Auch das Goethe-Institut hatte aus Anlass des Bücherherbstes 2010 alle „Leseratten“ und „Bücherwürmer“ dazu eingeladen, ein „charmantes und leidenschaftliches“ Plädoyer für ihr Lieblingsbuch zu formulieren, um eine Reise nach Sizilien zu gewinnen und dort „auf Goethes Spuren“ zu wandeln. Und mittlerweile gibt es keine Kleinstadt von Wilhelmshaven bis Bad Hersfeld mehr, in der nicht irgendein „Buchcafé“ wöchentliche Lesesessions mit diversen „Lieblingsbüchern“ veran­staltet. Die rege Nachfrage, die solche Angebote verzeichnen, spricht entgegen der Behauptung der Kulturschaffenden nicht für die wachsende „Lesekompetenz“ der Bevölkerung, sondern für die zunehmende Verkümmerung ästhetischer Erfahrung. Niemand, der je von einem Buch ergriffen worden ist, wird die Scham­losigkeit aufbringen, es öffentlich zu seinem „Lieblingsbuch“ zu erniedrigen, um eine Bildungsreise zu gewinnen.

Lieblingsbücher vorzustellen, gehört zu den lästigen Pflichten von Dritt- oder Viertklässlern, die so von alternativen Sozialpädagogen an „die Welt des Lesens“ herangeführt werden sollen. Wer immer später Ansätze eines individuellen Literaturgeschmacks ent­wickelt, denkt an jene Zeiten, in denen unschuldige Kinder einander mit Klaus Kordon oder Gudrun Pausewang attackieren mussten, mit Grausen zurück. Wem Lesen mehr ist als Kulturkonsum, der hat keine Lieblingsbücher, und wer sich einen Rest Sprach­bewusstsein bewahrt hat, führt die Worte „Leseratte“ oder „Bücherwurm“ nicht in seinem Vokabular. Die Ankündigung Deutschland liest erkennt er als das, was sie ist, obwohl niemand sie so meint: als Epitaph auf das Buch.

Magnus Klaue beobachtet für den Freitag den Kulturbetrieb

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