Mein Romanheld und ich, wir zwei

Buchmesse Wie die ­schöne Literatur einmal von der ­sozialwissenschaftlichen ­Forschung missbraucht wurde. Ein Lehrbeispiel

Das wusste ich noch gar nicht: Angeblich habe ich nach der Realschule im Tiefbau gearbeitet und bin dann – sozusagen aus der Kloake – die soziale Stufenleiter bis hin zu akademischen Würden hinaufgeklettert, um schließlich als Lover einer Gastwirtin in einer Bahnhofsspelunke beruflich zu scheitern. Habe ich ein Doppelleben geführt? Ein Dreifach-, Vierfach-, Fünffach-Leben gar? Und bin ich wirklich ein Versager?

Diese Fragen kamen mir, als ich mich neulich zufällig auf jeweils etwa 80 Seiten in zwei Büchern mit wissenschaftlichem Anspruch porträtiert fand. Das erste Buch mit dem kryptischen Titel Autobiographische Körper-Geschichten, das auf einer Dissertation fußt, stammt von einem Sozialwissenschaftler namens Frank Schömer; der erklärende Untertitel lautet: „Sozialer Aufstieg zwischen 1800 – 2000“ (Göttingen 2007). Das zweite Buch, Der Aufsteiger von Schömer und dem Pädagogen Peter Alheit, trägt den Untertitel „Autobiographische Zeugnisse zu einem Prototypen der Moderne von 1800 bis heute“ (Frankfurt/New York 2009).

Ich lese: Bittner leide unter einem „Mangel an Selbstbewusstsein für einen autonomen Einstieg in eine bürgerliche Berufslaufbahn“. Er stelle im Rahmen der Untersuchung von sozialen Aufsteigern einen „typischen Fall“ des Scheiterns dar. In einem Gedicht mit dem Titel Da ich ein Knabe war manifestiere sich „das Nicht-Ankommen des Schreibenden selbst in einem mit Bildung und Status gleichermaßen konnotierten Feld – wenn man so will: das eigene Versagen Bittners“. Dieses Versagen des promovierten Volljuristen stelle sich „vornehmlich als ein berufliches Scheitern dar“. Das „Entfliehen“, das sich in Bittners Auslandsaufenthalten manifestiere, sei in Wahrheit ein „Weglaufen“ vor der Realität.

Dann stutze ich. Bei „Bittner-Wegner“, so heißt es da, sei es nicht „zu einer Einmündung in eine gehobene gesellschaftliche Position gekommen“. Bittner-Wegner? Wer bitteschön ist Bittner-Wegner? Unvermittelt fällt mir ein, dass der Protagonist meines ersten Romans Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben Erich Wegner heißt. Sollte ich tatsächlich ein Doppelleben als dieser Erich Wegner geführt haben? Und zwar in einem Ort namens Saalstädt, bei dem es sich „de facto … um die ostfriesische Kleinstadt Wittmund“ handelt, „wo die Familie im Januar 1946 eintraf“?

Ja, so muss es dann wohl gewesen sein. Ich habe nach der Schule nicht in der Verwaltung gearbeitet, nicht den Beamtenstatus in jungen Jahren aufgegeben, weil ich ein interessanteres, selbstbestimmtes Leben als Schriftsteller führen wollte. Ich habe keine Romane geschrieben, nicht zahlreiche Artikel, Glossen, Essays, Rundfunkarbeiten, Geschichten, Gedichte usw. veröffentlicht. Das muss ein anderer gewesen sein.

Aber wer bin ich denn nun? Dieser Erich Wegner aus dem Aufsteiger-Roman? Der Maler Matthias aus dem Roman Bis an die Grenze? Oder der Verlagslektor Fred Marmelstein aus Marmelsteins Verwandlung? Bin ich etwa das ICH aus dem Roman Niemandsland? Da heißt es in dem einen Buch dieser beiden Akademiker (der eine ist der Doktorvater des anderen) mit dem entlehnten Titel Der Aufsteiger: Der Autor Bittner verberge sich in seinem Roman Niemandsland „kaum verhüllend hinter dem seine Vergangenheit reflektierenden Protagonisten (einem Juraprofessor)“. Aber war das nicht ein Philosophie-Dozent mit Zeitverträgen, um den es da ging? Und was hat es mit meiner Sexualität auf sich, mit Bommi Baumann, Inge Viett oder mit Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser, mit denen ich verglichen werde? Und sollten sich Schriftsteller lieber nicht mehr für längere Zeit ins Ausland begeben?

Bleibt die bange Frage: Wer ist in so einem Fall der willkürlichen Zerstückelung von Literatur und Autorenidentität das Opfer? Natürlich ist es vornehmlich der Autor, dem auf teilweise diffamierende Art eine neue Biographie, sozusagen ein anderes Leben, angedichtet wird. Aber es ist auch die Wissenschaft, indem naive und mit ihrer Karriere befasste Autoren einfachste Grundsätze im Umgang mit Fiktion nicht beachten. Und da hört man immer, Belletristik sei folgenlos.

WolfgangBittner, geb. 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Göttingen. Der Jurist schreibt für Erwachsene; Jugendliche und Kinder, erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied im P.E.N. Weitere Informationen finden sich unter

wolfgangbittner.de

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