Meine einzige Beziehung zu einem Westler war eine Katastrophe und die Folgen hängen mir immer noch an.
Zuerst war der Westler noch aufregend, als die Mauer noch stand: selten gesichtete Objekte, Vertreter einer noch unbekannten Art - nur wenige von ihnen trauten sich damals in den düsteren Osten hinüber und die wenigen Mutigen wurden bestaunt. Manchmal traf man sie auch, auf einer Party im Prenzlauer Berg oder auf der Friedrichstraße, kurz vor ihrer Rückkehr in ein unbekanntes Land, wenn sie einem wohlwollend das verbliebene Ostgeld in die Hände drückten, das sie nicht mit zurücknehmen durften, aber gemeinhin behielt der Ostler, wenn er einen Westler kannte, dieses wertvolle Objekt ganz für sich.
So kam es, dass wir uns auf sie stürzten, als
ürzten, als die Mauer sich versehentlich öffnete und wir stürzten uns in die westliche Nacht, in Partys und Clubs und saugten den Westlern jedes Wort vom Mund, wir verpassten keine ihrer Bewegungen und kein Detail ihres fremdländischen Lebens und ahmten sie nach. Aber es gelang uns nicht. Der Westler-Mann z.B. - kein Vergleich zu dem gemeinen ostdeutschen Exemplar. Dem Ostler baumelten die unansehnlichen Jeans in den Kniekehlen und sein Haar war meistens ungefönt - die Westler dagegen ... "Die West-Männer tragen gut geschnittene Jacketts!" verkündete ich meinen Freundinnen begeistert, nachdem ich das erste Wochenende in West-Berlin verbracht hatte, und meine beste Freundin fragte hämisch nach: "Na, und hast du dir einen mitgebracht?", was ich euphorisch bejahte: "Den ersten, der mir über den Weg gelaufen ist!"Die Beziehung zu meinem Westler zog sich über mehrere Jahre und ich war fasziniert. Wissbegierig las ich ihm jedes Wort von den Lippen und begriff, dass mein Leben, bevor ich ihn getroffen hatte, vollkommen falsch gewesen war. Meine Tochter z.B., mit der ich damals allein gelebt hatte, hatte ich völlig falsch erzogen, und in den folgenden Jahren änderte sich, unter dem sanften Einfluss des Westlers, mein Erziehungsstil. Heute ist meine Tochter ein renitentes ich-bezogenes Ding. Damals aber lernte ich die gesamten pädagogischen Theorie-Diskussionen des Westens kennen. Wir experimentierten mit Freien-Schul-Projekten, Braunmühlschen Theorien und engagierten uns in Schüler-Läden, der Westler allerdings noch mehr als ich. Ich hinkte immer ein bisschen nach. Auch konnte ich nicht so gut wie er in den Versammlungen reden, auch in persönlichen Diskussionen war ich rhetorisch eher schwach, und nach einigen Jahren war ich von den ganzen Auseinandersetzungen und dem Willen, die moderne Gesellschaft zu gestalten, stark geschwächt. Ich versuchte, mich zurückzuziehen, was mir der Westler übel nahm, sein Lehr-Projekt drohte im Sand zu verlaufen, und die ganze anfängliche Euphorie endete in einem erbitterten Kampf. Noch heute versucht der Westler, seine Macht zurückzugewinnen, er nennt sich Vater und hat dafür ein Wort geprägt: "sozialer Vater", und im Namen dieses modernen Begriffes mischt er sich regelmäßig in mein Leben ein. Kürzlich beispielsweise fand ein Klavier den Weg in meine Wohnung, ohne dass ich zuvor gefragt worden bin, es thront jetzt in meinem Zimmer, das zugleich mein Arbeitszimmer und meine einzige Rückzugsmöglichkeit ist, aber es ist unerlässlich, dass meine Tochter Klavierstunden nimmt, hat der Westler meiner Tochter versichert, und ich kann es nicht entfernen, ohne als desinteressierte egoistische Mutter da zu stehen. Der Westler aber ist wieder, und so hat er für kurze Zeit seine Ehre gerettet, der bessere Mensch und ohnehin auf dem richtigen Weg.Unterdessen schlängele ich mich durch mein Leben und ziehe mich in meine anerzogene ostdeutsche Innerlichkeit zurück. Ich rede ungern, schreibe lieber, gehe öffentlichen Diskussionen und Konflikten aus dem Weg, und als mich neulich unser Hausmeister auf der Straße anhielt und fragte, warum bei uns neuerdings solch ohrenbetäubender Lärm aus der Wohnung dränge, die Nachbarn hätten sich bei ihm beschwert, gelang es mir nur noch, wortlos in unser Haus zu flüchten und die Tür hinter mir panisch ins Schloss zu ziehen.Seit kurzem aber überlege ich, ob ich mein Verhalten nicht doch ändern soll, seit meine Tochter angekündigt hat, sie würde sich jetzt doch eher fürs Schlagzeug interessieren und der Westler hätte sie darin bestärkt. Ja, es ist wohl an der Zeit, sich im Widerspruch zu üben, vor allem, seit keiner unserer Nachbarn mehr grüßt und ich in unserem Mietvertrag gelesen habe, dass man ein Musikinstrument genehmigen lassen muss, ansonsten sei das ein Kündigungsgrund, und manchmal fällt mir mit Schrecken ein Satz des Westlers ein, der mir einmal prophezeite, mit meinem verstockten Verhalten wäre ich in dieser Gesellschaft dem sicheren Untergang geweiht. Ja, er hat Recht. Wir steuern einer Katastrophe entgegen, gegen die ich dringend etwas unternehmen muss, aber dennoch werde ich manchmal das Gefühl nicht los, dass es erst seit meiner Bekanntschaft mit dem Westler so gekommen ist. Seit ich ihn kenne, geht ein Riss durch mein Leben, das wird mir in manchen Momenten schmerzlich bewusst, so wie gerade, da ich meiner Tochter vorsichtig ankündige, wir müssten endlich einmal über Musikinstrumente reden und sie mich ansieht mit einem bitterbösen Blick.
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