Meine Sorge gilt Russland

Theodor-Wolff-Preis Irena Breznà über ihr Engagement für Tschetschenien und die Einsamkeit des Schreibens zwischen dem Kaukasus und Westeuropa

Theodor-Wolff-Preis für "Freitag"-Autorin Irena Breznà


"Sainap braucht nicht die Welt, die sie vorfindet, sie braucht eine Welt, die sich erschüttern lässt", schreibt Irena Breznà in ihrer "Freitag"-Reportage "Sammlerin der Seelen" (Ausgabe vom 7.9. 2001) über eine tschetschenische Frau, die durch Westeuropa reist, um an einen vergessenen Krieg zu erinnern. In der vergangenen Woche erreichte uns die erfreuliche Nachricht, dass der Autorin für diesen Text der Theodor-Wolff-Preis 2002 verliehen worden ist, wozu ihr Redaktion und Verlag herzlich gratulieren.
1950 in Bratislava geboren, emigrierte Irena Breznà 1968 nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR mit ihren Eltern in die Schweiz. Dort studierte sie in Basel Slawistik, Psychologie und Philosophie. Zunächst als Psychologin und Dolmetscherin tätig, arbeitet sie seit Anfang der neunziger Jahre als Publizistin und Buchautorin. 1997 erschien ihr Tschetschenien-Buch Die Wölfinnen von Sernowodsk (Quell-Verlag Stuttgart), das inzwischen nur noch über die Autorin direkt zu beziehen ist.

FREITAG: Nach dem Züricher "Journalistenpreises 2000" ist Ihnen nun der renommierte "Theodor Wolff-Preis" für eine Ihrer Tschetschenien-Reportagen verliehen worden. Welchen Wert hat diese Auszeichnung für Sie?
IRENA BREZNA: Einen großen, zunächst einmal, weil es eine Auszeichnung ist für eine Arbeit über Tschetschenien. Ein Thema, mit dem ich mich schon seit 1996 befasse und das mich sehr bewegt. Aber ich empfinde den Preis auch als Bestätigung für meinen Stil, denn ich versuche, literarisch-journalistisch zu schreiben. Immer wieder muss ich erfahren, dass diese Form weder für Auslandsseiten, noch für Feuilletonseiten von Zeitungen passt: Für das Ausland sei es zu literarisch, für das Feuilleton zu politisch.

Gab es 1996 einen konkreten Anlass, der dazu führte, dass sie sich dem Thema Tschetschenien so vehement verschrieben haben?
Wahrscheinlich spielten hier Biographie und Persönlichkeitsstruktur eine Rolle. Mein größtes Trauma war die Besetzung meiner Heimat, der Tschechoslowakei, 1968. Danach bin ich durch die Entscheidung meiner Eltern in die Schweiz gekommen - und als die Panzer im Dezember 1994 nach Grosny rollten, da habe ich etwas wiedererkannt. Aber ich bin nicht nach Tschetschenien gegangen, weil Tschetschenien besetzt worden ist. Ich bin dorthin gegangen, weil sich die Tschetschenen zum Widerstand entschlossen hatten.

Sie porträtieren mit dem jetzt prämierten Text eine Tschetschenin namens Sainap - Sie beschreiben, wie sie unterwegs ist in Europa, um mehr Erschrecken über das Schicksal ihres Volkes auszulösen. Sie beschreiben diese Frau, aber Sie beschreiben nicht, auf welche Reaktionen sie bei ihrer Reise trifft. Warum nicht?
Ich habe über 40 Texte zu Tschetschenien geschrieben und darin stets auch meine Empörung über die Gleichgültigkeit des Westens diesem Kolonialkrieg und diesem Völkermord gegenüber ausgedrückt. Bei der Sainap kam es zu dieser Erzählweise, weil ich einen Punkt erreicht hatte, bei dem meine Verzweiflung so groß war, dass ich mich gefragt habe, bewirkt der Journalismus noch irgendetwas? Immer wieder weise ich auf die Gräuel hin, auf die Filtrationslager, in denen gefoltert wird - aber es ändert sich nichts. Ich wollte ursprünglich einen Roman schreiben über eine Tschetschenin ...

... über die Sainap aus Ihrer Reportage?
Ja, das Vorbild für diese Figur ist die Menschenrechtlerin Sainap Gaschajewa, eine Kriegsfotografin, die das größte Archiv des Genozids über die beiden Tschetschenien-Kriege zusammengestellt hat.

Was bedeutet es für Ihre Bemühungen, dass Russland seit dem 11. September de facto Teil der internationalen Anti-Terror-Allianz ist, und das militärische Vorgehen in Tschetschenien als Teil des Anti-Terror-Krieges gilt?
Die Lage in Tschetschenien hat sich wirklich verschlimmert nach dem 11. September. Es gibt täglich Säuberungen in den Dörfern, in allen Siedlungen. Säuberung, das heißt, maskierte Soldaten mit überschmierten Schildern auf ihren Panzerwagen, so dass man sie nicht identifizieren kann, dringen in die Häuser ein. Sie plündern, sie entführen - vor allem Männer - sie vergewaltigen. Eine unglaubliche Willkür, die von einer Staatsarmee ausgeht.

Jetzt nicht mehr nur mit stiller Billigung, sondern der Zustimmung des Westens ...
Richtig. Und das Schlimme ist ja, dass Herr Putin als Demokrat hofiert und überhaupt nicht gedrängt wird, dieses Problem zu lösen. Noch immer gibt es 180.000 Flüchtlinge nur in Inguschetien. Ein Volk, das über 200.000 Tote zu beklagen hat, bleibt in Armut gestoßen. Das ist aber noch nichts im Vergleich zu dieser ungeheuren Schutzlosigkeit, denn jeder Tschetschene, ob Frau, Mann oder Kind, kann verhaftet und gefoltert werden. Und das ist das Schlimmste.

In einer ebenfalls vom "Freitag" im September 2000 gedruckten Reportage bezeichnen Sie Wladimir Putin - er war damals schon russischer Präsident - als "missratenen Sohn Russlands". Setzen Sie sich damit nicht dem Vorwurf der Einseitigkeit aus oder ist es gerade das, was Sie wollen?
Ich bin vom Beruf her Slawistin. Ich habe mit großer Innigkeit die russische Sprache gelernt, die russische Literatur studiert. Mein Engagement gegen den Krieg in Tschetschenien resultiert auch aus meiner großen Sorge um Russland. Und Herr Putin ist eindeutig missraten, er ist durch diesen Krieg an die Macht gekommen. Seine erste Amtshandlung war es damals, Messer an die Offiziere in Tschetschenien zu verteilen, also eine Brutalisierung der Gesellschaft zu bewirken. Sie müssen auch bedenken, dass es noch keine einzige Verurteilung für Verbrechen in Tschetschenien gab. Russische Soldaten sind für Plünderungen zur Rechenschaft gezogen worden, aber nicht für Vergewaltigungen, nicht für Mord. Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn ihre Jugend erfährt, dass Verbrechen nicht gesühnt werden.

Nach meinem Eindruck gehören zu dieser Brutalisierung auch die terroristischen Methoden, deren sich der tschetschenische Widerstand bedient ...
Der tschetschenische Widerstand war im ersten Krieg (1994 bis 1996, die Red.) eine Volksbewegung, dann haben sich einige Feldkommandeure radikalisiert, wie Schamil Basajew, den ich 1996 getroffen habe. Er hat im ersten Krieg 13 Familienangehörige verloren, die getötet wurden, so etwas hat den Menschen geprägt.
Ich war zum Beispiel in Grosny während der sogenannten Unabhängigkeitsphase 1997, als auf den Straßen Männer mit Kalaschnikows statt mit einem Aktenkoffer spazierten. Sie wurden nicht entwaffnet, sie waren arbeitslos. Dem kriegszerstörten Land kam damals nicht nur niemand zu Hilfe, sondern Russland hat es blockiert und den zweiten Krieg vorbereitet. Niemand hat sich dafür interessiert. Die Gefahr, als Ausländerin entführt zu werden, war so groß, dass uns Präsident Maschadow zwölf Leibwächter gab, weil die kriminellen Banden dermaßen aktiv waren.

Ist die Deutung verfehlt, dass Sie sich mit der Figur der Sainap auch ein Stück weit selbst beschreiben?
Das ist keine Fehlinterpretation. Ich glaube schon, dass sich ein Teil meiner Persönlichkeit mit dieser Sainap identifiziert. Ich kann die Sainap von innen her sehr gut verstehen und daher auch auf diese emphatische Art schildern, wie ich es getan habe.

Das Gespräch führte Lutz Herden.

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