Gezeitenwechsel Wenn die Mehrheit der Bürger anfängt, politisch so zu urteilen, wie es der sozialen Tendenz ihrer Einzelmeinungen entspricht, zerbröselt der Block an der Macht
Nicht nur die letzten Wahlergebnisse, auch die so genannten "Meinungsumfragen" beweisen: In Deutschland gibt es offenbar eine linke Mehrheit. Fragt sich nur, warum sie keine Anstalten macht, die politische Macht zu erobern. Fehlt es an Konzepten? Fehlt es an Ideen? Fehlt es am Mut? In einer neuen Serie fragt der Freitag nach Defiziten und Perspektiven der Linken in Deutschland. Den Auftakt macht der Berliner Soziologe Wolfgang Engler, der Grundfragen der politischen Willensbildung nachgeht.
Die große Mehrheit der Deutschen befürwortet die soziale Demokratie und urteilt, von Demoskopen ausgefragt, auch sonst ziemlich verständig. Folgte die deutsche Politik dem common sense, dann führte sie gesetzliche Mindestlöhne ein, verzichtete auf eine volle Rente erst mit 67, s
eine volle Rente erst mit 67, sorgte für reelle Chancengleichheit in der Bildung, schützte öffentliche Güter vor bedenkenloser Privatisierung und verteidigte persönliche Freiheiten gegen die Gelüste des Sozialschnüffelstaats. Sie nähme, des Weiteren, Abstand von militärischen Engagements, die völkerrechtlich haltlos sind und verfügte ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen.Die politischen Eliten ignorieren diese An- und Absichten des "Volks" - unter Verhältnissen, die ihm periodisch die Möglichkeit eröffnen, sich neue Regierende zu wählen. Wie ist das möglich?Eine noch heute erwägenswerte Antwort auf diese Frage gab vor mehr als 250 Jahren David Hume in seinem Essay über die Grundlagen der Herrschaft Of The First Principles Of Government. "Nichts", so schrieb er dort, "erstaunt jene, die sich mit den menschlichen Angelegenheiten gründlich beschäftigen, in höherem Maße, als die Leichtigkeit, mit welcher sich die Vielen von den Wenigen beherrschen lassen. Wenn wir näher untersuchen, was dieses Wunder bewirkt, finden wir, dass sich die Regierenden gegen die Macht der großen Zahl auf nichts weiter stützen können als auf die Meinung. Darin, in Meinung allein, gründet die Regierung. Diese Maxime erstreckt sich auf despotische und gewalttätige Regierungsformen ebenso wie auf die freien und volkstümlichen."Nun denkt das bundesrepublikanische Wahlvolk über Grundfragen des gesellschaftlichen Seins und Werdens keineswegs regierungstreu. Zugegeben, manche seiner Ansichten ("Menschen, sofern dazu imstande, sollen Arbeit leisten", "Wer nicht arbeitet, soll wenigstens bescheiden leben"), decken sich mit der offiziösen Meinung. Im Wesentlichen jedoch beharrt das Publikum auf seinen spontanen sozialdemokratischen Überzeugungen und lässt sich darin weder von den staatstragenden Schichten noch von deren medialer Gefolgschaft ernsthaft irritieren. Von dieser "Sturheit" ihrerseits unbeeindruckt versehen die führenden Politiker die Staatsgeschäfte auf die derweil schon altbewährte, neoliberale Weise. Sie haben, so scheint es, einen Weg gefunden, Macht unter Umgehung der Mehrheitsmeinung zu erlangen und zu behaupten; Hume wäre, gerade was die "freien Regierungsformen" anbetrifft, veraltet, widerlegt.Aber vielleicht ist dieser Schluss zu voreilig. Politische Meinungen beschränken sich nicht auf eine Reihe klar formulierbarer Prinzipien; sie formen kein systematisches Weltbild. Ihr weit gespanntes Spektrum umfasst reflektierte Wertvorstellungen ebenso wie intuitive Gewissheiten, gewohnheitsmäßige Anschauungen, Klugheitsregeln, die - da selten streng geprüft - vielfach zu Dogmen aushärten. Davon profitieren die je Machthabenden in deutlich höherem Maße als ihre Opponenten. Diesen Legitimationsvorsprung des juste milieu gegenüber einschneidenden "Neuerungen" hatte Hume im Sinn, als er seinen Essay verfasste.Wer Macht über längere Zeit hinweg ausübt, beweist allein dadurch Kompetenz, Machttauglichkeit. Dieses Amtscharisma überstrahlt bis zu einem gewissen Grade die einzelnen Maßnahmen und Gesetze, die aktuell ergriffen beziehungsweise erlassen werden. Ein wenig von dem Glanz färbt auf den Mehrheitswähler ab. Der hat mit vielen anderen just diese Regierung installiert und sonnt sich nun zufrieden in dem dünnen Strahl, der auf ihn fällt. Mehr als das Führungspersonal, dem er ins Amt geholfen hat, liebt und bejaht er seine Wahl, und ungern sieht er sich darin getäuscht. Seine Eigenliebe ist das stärkste Bindungsmittel an die Macht, und wenn er dieser etwas nachsieht, verteidigt er in Wahrheit stets die eigene Option. Dass politische Mehrheiten leicht umzustoßen sind, beruhigt ihn zusätzlich. Gerade weil der Wechsel jäh vonstatten gehen kann, hat es mit dem Wechsel keine Eile. Was allzeit möglich ist, kann warten. "Herrscht diese Meinung unter der Allgemeinheit eines Staatswesens vor, hat jede Regierung leichtes Spiel."So sah es Hume, und obschon die Skepsis gegenüber der Ehrwürdigkeit von Herrschaft seither einige Fortschritt verzeichnet, gibt er auch uns genug zu denken. Wer einer Regierung wohlmeinend begegnet, sei es nur, weil er sie mit errichten half, wird seiner mitlaufenden Kritik zunächst Dispens erteilen. Hier sticht die große MEINUNG die vielen kleinen aus.Derselbe Zusammenhang aus oppositioneller Perspektive aufgefasst: Einen Machtwechsel herbeizuführen, sind bessere Ideen bei weitem nicht genug. Sie zu bündeln, ein Projekt, das fasziniert, zu formulieren, steigert die Aussichten auf einen Umschwung. Mit einer alternativen politischen Konzeption tatsächlich bei der Mehrheit durchzudringen, unterstellt die glaubwürdige Versicherung, dem Ernst der Aufgabe gewachsen zu sein, weniger zu lügen als die bereits Etablierten, mehr von dem, was man sich vornimmt, zu erreichen, und zwar so, dass alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen daraus Nutzen ziehen, zumindest damit leben können. Der Souverän, an gebrochene Versprechungen leidvoll gewöhnt, weitere Enttäuschungen voraussehend, wählt, revolutionäre Zeiten ausgenommen, das geringere Übel statt der großen Prophezeiung. Er scheut den weiten Sprung und wagt allenfalls den nächsten Schritt. Soziale Utopien, die, der guten Bodenhaftung halber, auf allen Vieren gehen, gehen diesbezüglich weit genug.Diese ernüchternde Feststellung gilt um so mehr, als sozial engagierte Machtanwärter mit einer weiteren MEINUNG rechnen müssen, die die sonstige Meinungsbildung überblendet: Das Wünschens- und Erstrebenswerte ist nicht zeitgemäß. Eine gute Arbeit, auskömmlichen Lohn, ein Alter ohne materielle Sorgen, wir wären froh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.Um die Kraft dieses Volks(Vor-)Urteils halbwegs zu ermessen, führe man sich den radikalen Bedeutungswandel vor Augen, den der Begriff "Reform" während der letzten beiden Jahrzehnte mehr erlitt als erfuhr.Reformen, im heute schon beinahe antiquierten Sinn dieses Wortes, beförderten den sozialen Ausgleich, eröffneten unterprivilegierten Gesellschaftsgruppen Bildungs- und Laufbahnchancen und vermittelten deren Mitgliedern ein höheres Maß an biographischer Sicherheit. Die "Reformen" der Neoliberalen und Neokonservativen (die voranzutreiben die deutsche Sozialdemokratie beklagenswerterweise mehr als nur Schützenhilfe leistete) spulen diese zivilisatorischen Errungenschaften systematisch zurück. Diese "Reformen" schmerzen (besonders jene, die seit je auf soziale Schmerzen abonniert sind), spalten die Gesellschaft, forcieren die ökonomischen Zumutungen, die der Einzelne sich gefallen lassen muss, und untergraben zusammen mit der materiellen Seinsgewissheit die Orientierungsfähigkeit ungezählter Menschen. Einschnitte, Kürzungen, Entbehrungen - in diesem dreifachen Missklang resümiert sich die armselige Philosophie der zeitgenössischen Gegenreform.Gleichwohl segelt sie frech und ungeniert unter fremder Flagge, und dieses Täuschungsmanöver hat die Mehrheit der Regierten schließlich kirre gemacht. Jahr um Jahr drangen die Machteliten und deren konzeptive Ideologen mit stets denselben groben Stereotypen auf die Bürger ein, bis diese, eine nach dem anderen, halb angewidert, halb erschöpft kapitulierten. Das jüngste Meisterstück dieser demagogischen Rhetorik vollbrachte die Kanzlerin der Republik. Kaum hatten CDU und CSU Lohnuntergrenzen für den Postsektor widerstrebend akzeptiert, sprach sie ihr ceterum censio: "Aber die Reformen müssen weitergehen." Als wären Mindestlöhne, und zwar flächendeckende, kein Ausdruck sozialen Reformwillens!Dass diese ebenso sinnwidrige wie schamlose Verkehrung des Reformgedankens öffentlich passieren konnte, weithin kritiklos, zeigt, in welchem geistigen Sumpf wir uns befinden.Zwei MEINUNGEN, zwei geistige Hintergründe: Die erste, aus der Erfahrung geschöpft, gehört dem gesunden Menschenverstand. In ihrem Geltungsbereich sind die auf das Politische gerichteten Erwartungen so gering wie die von dort ausgehenden Kränkungen. Eine lebenspraktisch gesättigte Indifferenz legt sich über das gesamte Meinungsfeld und hemmt Einsichten, die zu einer risikofreudigeren Haltung führen könnten, an ihrer Entfaltung.Die zweite Generalmeinung ist oktroyiert. Sie dämpft, gleich der ersten, politische Erwartungen, um Kränkungen und "Grausamkeiten" desto leichter verordnen zu können. Unter ihrem Einfluss erwartet man die denkbar größten Übel - materiell geschröpft und sozial gebrandmarkt zu werden, - und hält das obendrein für unabänderlich. Eine tiefsitzende Müdigkeit erstreckt sich über das gesamte Meinungsfeld und schläfert erst das Wissen um und zuletzt auch den Wunsch nach Alternativen zum krud Gegebenen ein.Die erste MEINUNG aufzubrechen bedarf es eines vorherigen Angriffs auf die zweite. Das Schicksal einer neuen Art von Politik entscheidet sich, wie üblich, im Streit um Grundbegriffe. Ehe die Köpfe vom geistigen Unrat der Gegenreform nicht gründlich gereinigt sind, steht eine zugleich soziale und freiheitliche Politik auf verlorenem Posten.Anknüpfungspunkte für eine erfolgreiche Attacke auf die Bastionen der Gegenreformer existieren reichlich. Man lese und staune: Selbst nach wochenlangem politischen wie massenmedialen Dauerbeschuss des Streiks der Lokführer unterstützten stattliche 66 Prozent der repräsentativ befragten Deutschen diesen Arbeitskampf!An rastlosen Bemühungen, die Bürger im Sinne des herrschenden Einheitsdenkens zu beeinflussen, zu manipulieren, fehlt es nicht; Markthörigkeit verpflichtet. Dennoch (und erfreulicherweise) ist Manipulation der falsche Schlüssel zum Verständnis des Alltagsbewusstseins. Dieses Bewusstsein ist in sich widersprüchlich und folglich lebendig. In ihm ringen Meinungen mit Gegenmeinungen um öffentliche Anerkennung, wobei sie sich an MEINUNGEN stoßen, die diesen Klärungsprozess erschweren oder verhindern, und die sich, um ihre Störarbeit reibungslos zu verrichten, als ganz gewöhnliche Meinungen tarnen.Ein unbefangener Blick in die Struktur des Alltagsbewusstseins ist der erste Schritt zu seiner (Selbst-)Aufklärung. Wenn die Mehrheit der Bürger anfängt, politisch so zu urteilen, wie es der sozialen Tendenz ihrer Einzelmeinungen entspricht, zerbröselt der Block an der Macht wie eine Marmorstatue im sauren Regen.Wolfgang Engler, geboren 1952 in Dresden, Soziologe, ist Rektor an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2005 der Band Bürger ohne Arbeit.
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