Meister

Lust am Erzählen Der französisch-deutsche Germanist Robert Minder

Zum hundertsten Geburtstag des Germanisten Robert Minder versammelten kürzlich das Pariser Goethe-Institut sowie der Deutsche akademische Austauschdienst (DAAD) Deutschprofessoren und ein paar Doktorandinnen, die in letzter Zeit über die Eigenart des deutsch-französischen Kulturvermittlers arbeiten. Er war als Abkömmling einer Straßburger bürgerlichen Familie zu gleichen Teilen eingetaucht in die französische wie in die deutsche Sprache, zwischen beiden Überlieferungen balancierte er auf unvergleichliche Weise und wusste beiden Anstöße für sein Denken zu entnehmen.

Minder sprach selbst davon, ein Doppelleben zwischen ihnen zu führen. Für den Elsässer, der er war, hatte sich ihm die "Katastrophenzone" als Existenzbereich aufgezwungen. Bloße Sprachenkenntnis lieferte ihm den Schlüssel dazu nicht. Es gehörte dazu, sich, wie man heute sagt, selbst einzubringen und jeden Gedanken wie eine Lebenswirklichkeit aufzufassen, die der Geschichte unausweichlich ihren Stempel aufdrückte und der man folglich nicht zu entgehen vermochte. Es hat, wie Minder selbst einmal sagte, "ihm vielleicht auch ermöglicht, ein paar neue Perspektiven ins Bild zu bringen und die Eigenart des jeweiligen Volkes von innen zu sehen: von der besonderen Erlebnis- und Ausdrucksform".

Zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte er Autoren, die seine damaligen Kollegen auf den französischen Lehrstühlen als literarische Nebenerscheinungen abzutun pflegten. Karl Philip Moritz oder Ludwig Tieck gehörten dazu und später als er in Paris im Collège de France einen eigens für ihn zugeschnittenen Lehrstuhl erhielt, rückte er bislang verschleierte soziale Wirklichkeiten ins Licht, etwa das Bild des Pfarrhauses oder das Kadettenhaus unter dem Gesichtspunkt der Gruppendynamik sowie des Stilwandels. Eine andere kulturgeschichtliche Fährte, die ihn fesselte, war das Thema des Lesebuchs, das ja bereits im Schulalter in den Köpfen geschichtliches Beweismaterial deponiert. Ein Beweismaterial, so machte Minder deutlich, "das dem Nachbarn überhaupt nicht zum Bewußtsein kommt, weil seine Geschichtsoptik von vornherein die Fakten ganz anders ausgewählt und gruppiert hat". Diese gegenseitige Resonanz von literarischer Schöpfung und politischer Wirklichkeit hat Minders Interesse von früh auf angezogen. Dem Werden des Geschichtsbewusstseins spürte er mittels literarischer Entdeckung unermüdlich nach.

Seine Stärke liegt darin, die gegenseitige Symbolik deutschen und französischen Unverständnisses oder Missdeutens aufzudecken. Ein Beispiel für Richard Wagners Bedeutsamkeit liest sich dann folgendermaßen: "Wenn Siegfried im neuen Deutschland eine immer markanter hervortretende Symbolgestalt werden konnte, so ist das nicht Willkür und Zufall. Siegfried der Schmid war eine mythische Parallelerscheinung zum Schmiede Bismarck, der auf Grund von Kohle und Eisen das Industriereich hatte schaffen können. Der Mythos entsprach der Wirklichkeit. Er verzerrte und verzehrte aber die Wirklichkeit, fraß sie von innen her an, höhlte sie aus, wenn er die Übermacht gewann, den Blick benebelte und ... ganz Europa auf das ›arische‹ Siegfried-Bild ausrichtete."

Die Treffsicherheit von Minders Denken oder Charakterisierungen ist es nicht allein, aus der die Berührungskraft dieser Prosa entspringt. Dass anlässlich des Gedenkjahres der Frankfurter Suhrkamp-Verlag den Band Wozu Literatur? wieder auflegt, erklärt sich ebenso sehr aus dem außergewöhnlichen Sprachvermögen, das in diesen wissenschaftlichen Untersuchungen vorscheint. Mehr noch: Dieser französische Forscher ist ein deutscher Schriftsteller von hohen Graden. Tatsächlich gewinnt sein Satz, ist er ins Gewand des Deutschen gekleidet, eine Farbigkeit, eine rhythmische Schärfe, eine Hintergründigkeit, die längst über den Fußmarsch der Sinnfälligkeit hinausgeht und die das geistige Engagement des Autors zur unabdingbaren Voraussetzung hat. Da vermengt sich ein stürmisches Temperament, das aus dem Schreibenden einen zielsicheren Polemiker macht, mit einer unvorhersehbaren sprachlichen Fantasiefülle, die ihre Lust am Erzählen demonstiert. Wie oft appelliert er an Scheherazade, wenn er literarische Sachverhalte in ihrer Verstrickung klar machen will. Gedanke und Anschauung weiß Minder unauflösbar zu vermählen. So beschwört er sein Fach mit folgenden Worten herauf: "Literaturgeschichte - ein Riesenmärchenteppich, bunt, verworren, Oberon ruft und reitet hindurch."

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