"Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", hat Vizekanzler Guido Westerwelle neulich geäußert. Seither zweifeln viele öffentlich an der Kompetenz des Mannes; dabei birgt sein Vergleich bemerkenswertes Potenzial.
Wann Rom gegründet wurde, weiß jeder: 7-5-3, Rom kriecht aus dem Ei. Weder die Jahreszahl noch die Ei-Theorie halten der Überprüfung stand, aber man erhält eine Vorstellung davon, wie weit das römische Reich historisch zurückreicht. Wann genau es untergegangen ist, bleibt unklar. Es hat sich eingebürgert, einen Mann namens Romulus Augustulus (476 n. Chr.) mit der faktischen Auflösung des Weströmischen Reiches zu verbinden. Die zweihundert Jahre, die diesem Zeitpunkt vorausgehen, werden gemeinhin als Spätantike bezeichnet, eine Epoche, deren Beginn meist mit dem Regierungsantritt des Kaisers Diokletian (284 n. Chr.) assoziiert wird. Die Daten sind problematisch; sie reichen aber aus, um den Begriff „spätrömisch“ zu verorten.
Dekadenz wiederum bezeichnet einen Prozess des „Herab-Fallens“, ein (meist moralisch) wertender Begriff, der das Hinabgleiten eines „hohen“ Zustandes (der Gesellschaft) in einen „niedrigeren“ bezeichnet: Das ist gute europäische Denkweise, klagte doch schon Homer darüber, dass mit der Jugend von damals nichts mehr los sei.
Westerwelles Zitat suggeriert zweierlei: zum einen, dass die spätrömische Gesellschaft dekadent war, zum anderen dass dies durch Verheißung anstrengungslosen Wohlstands herbeigeführt worden sei. Kulturell, soviel ist unstrittig, lässt sich kein Niedergang ausmachen: Ästhetische Prinzipien in Kunst und Literatur wandelten sich hin zu einem eher schwülstigen Barock; das macht aber objektiv keinen Niedergang aus. Pergament löste Papyrus als Hauptmedium für die Buchherstellung ab; dies war wohl eher ein Fortschritt als ein Rückschritt. Das kulturelle Leben verlagerte sich von Rom in die Provinzen, Rom erlebt den Aufstieg des Christentums, Partikularisierung und Bedrohung durch umherziehende Völker (Terroristenbanden mit Migrationshintergrund würde man wohl heute sagen); dies waren wohl eher Zeichen der Zeit als Zeichen der Dekadenz. Bereits im Jahre 212 n. Chr. hatte Caracalla allen freien Reichsbewohnern das Bürgerrecht verliehen und damit ein altes Konfliktpotenzial beseitigt. Dekadenz? Fehlanzeige.
Es bleibt der sozial-ökonomische Sektor: Nach Caracallas Reform ist zu beobachten, dass immer weniger Mächtige (potentes) einander quasi-feudalistisch Posten, Kapital und Landbesitz zuschacherten, während immer mehr „Gemeine“ (humiles) in Armut lebten. Selbst juristisch bestand ein Unterschied zwischen den Mächtigen und den Gemeinen. Dies mag man von einem ethischen Standpunkt her durchaus als Dekadenz infolge der Verheißung relativ anstrengungslosen Wohlstands beurteilen. Allein, die damaligen Profiteure dieser Entwicklung wären doch die klassische Klientel der heutigen FDP: Soviel Selbstironie hätte man Westerwelle gar nicht zugetraut.
Oder schwebte Westerwelle dann doch eher Fellinis Verfilmung des Romans Satyricon vor, in welchem der eitle, ungebildete Trimalchio seinen Reichtum obszön zur Schau stellt? Der Roman ist zwar der Archetyp fast aller Phantasien römischer Dekadenz – allein, der freigelassene Sklave Trimalchio hat seine Reichtümer nicht durch staatliche Transferleistungen, sondern durch harte Arbeit erlangt. Womit einmal mehr klar wird: Stil kann man eben nicht kaufen.
Peter Kruschwitz lehrt klassische Altertumswissenschaft an der University of Reading
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