Schödel ruft an. Das ist selten. Sonst schickt Schödel Mails. Nein, sonst lässt Schödel Mails schicken. Er hat kein eigenes Konto. Die Sache läuft, sagt er. Aber nicht in Gstaad. Sondern in Zürich. Sein Assistent sei gerade unterwegs nach Thailand. Dem Milliardär hinterher. Natürlich kenne ich Schödels Assistenten. Aber den Milliardär? „Der Milliardär hat gesagt: Kommen Sie nach Thailand, da besprechen wir alles.“ Schödel würde nie selbst nach Thailand fliegen. Der Assistent ist unterwegs. Er kann alles vor Ort verhandeln. „Die Sache läuft jetzt. Es wird großartig“. Keine Frage. „Mit Zeppelin, verstehen Sie“, ruft Schödel, „oder Fesselballon, mal sehen. Jedenfalls mit L
t Landung auf einem Platz mitten in der Stadt.“ Ja, sage ich, das klingt großartig, Zeppelin, Fesselballon. „Wir lesen Texte über Lautsprecher, während wir landen. Man wird uns über die ganze Stadt hin hören“, ruft Schödel.Ich traue mich nicht, zu fragen, wovon er redet. Erst mal zustimmen. Der Rest ergibt sich. Es war klar, dass es in Gstaad Schwierigkeiten geben würde, sagt Schödel, deshalb jetzt in Zürich. „Sind Sie dabei“, fragt er. Und ich sage: „Natürlich bin ich dabei. Sie sagen, was ich tun soll.“ „Sie müssen dabei sein!“, sagt Schödel. Und ich sage: „Natürlich!“ und weiß immer noch nicht, worum es geht. Ich frage: „Warum macht der Milliardär das?“ Vielleicht bekomme ich auf diese Weise mehr heraus. „Tennis“, sagt Schödel, „er ist ein Tennismilliardär. Der hat Sehnsucht nach mehr, verstehen Sie?“ „Natürlich“, sage ich. „Wer ist sonst noch dabei?“ Da reisst die Verbindung ab, ich höre noch, wie Schödel ruft: „Alle, natürlich!“ Dann ist er verschwunden.Keine BotschaftIch gucke den Hörer an, was ich nicht oft mache, weil nur Leute im Film den Hörer angucken. Aber ich wundere mich nicht. Es ist buchstäblich alles denkbar, wenn Schödel involviert ist. Schödel kam eines Tages die Treppe zu dem Büro hinauf, in dem ich arbeitete. Das ist Jahre her. Er war schweißüberströmt, das wirre Haar klebte ihm auf der Stirn. Er begann zu reden und mir war sofort klar, dass meine Aufgabe nicht darin liegen würde, ihn zu verstehen, sondern nur darin, seine Texte in die Zeitung zu bringen. Das habe ich gemacht und mache es immer noch. Denn Schödel, der weder die Statur noch das Temperament eines Abenteurers hat, ist einer der letzten großen Wahnsinnigen des deutschsprachigen Journalismus. Es gibt nicht mehr viele. Die meisten anderen hat der Alkohol dahingerafft, oder das Alter oder die Depression oder die Anpassung. Und man weiß nicht, welches davon das jeweils traurigere Schicksal ist. Aber Schödel ist noch übrig und verteidigt tapfer jenen schmalen Raum, der zwischen Möglichkeit und Vergeblichkeit liegt und der unter dem Angriff der Tatsachen und ihrer Ideologeten zu verschwinden droht.Mancher wird Schödel für einen Feuilletonisten halten. Das ist ein Missverständnis, wenn auch keine Kränkung. Das deutschsprachige Feuilleton ist inzwischen vermutlich das beste der Welt. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war das nicht abzusehen. Damals begann in den Zeitungen ein Sparen, das dem Feuilleton den Garaus hätte machen können. Üppiger sind die Zeiten seitdem nicht geworden. Im Gegenteil: Das Netz droht, die Anzeigen bleiben aus, die Leser sterben, Geld wird knapp. Da läge es nahe, auch die „gelehrten Sachen“ zu beschneiden. So hieß das Feuilleton ja, als es Mitte des 18. Jahrhunderts vom genialen Verleger Johann Heinrich Voß in Berlin erfunden wurde. Tatsächlich sind die in Seiten gezählten Umfänge auch ein bisschen zurückgegangen in den vergangenen Jahren. Aber nicht die Qualität. Im Gegenteil. Es gibt Untersuchungen, nach denen die im Kulturressort gedruckten Texte heute länger sind als früher. Unter dem Eindruck der existenziellen Bedrohung haben die Ressorts mit einer ungeheuren Verfeinerung reagiert. Mit einer Spezialisierung auf hohem Niveau. Die Feuilletons haben die Rolle übernommen, die hier früher die Universitäten und heute andernorts die Institute ausfüllen: Sie sind der Ort, an dem die Gesellschaft über ihre Zukunft nachdenkt. Da die Fachbereiche der höheren Lehranstalten vor allem solche Kandidaten suchen, die sich auf die Einwerbung von Drittmitteln verstehen, zieht es die klugen Köpfe eher in die Redaktionen als in die Universitäten. Und die Kultur der renommierten – und gut dotierten – Thinktanks, die es in den USA und in England gibt, ist hierzulande erst im Entstehen begriffen.Zu feuilletonistischEs ist ein bisschen die Leichtigkeit dabei verloren gegangen, das Spiel, das Überflüssige. Ist das der Grund dafür, dass Schödel nicht mehr so oft im Feuilleton der Zeitungen schreibt? Weil er das Kostbare liefert, nicht das Notwendige? Der ganze Mann ist natürlich schwer zu integrieren. Keine Frage. Für den politischen Teil ist dieser Autor zu feuilletonistisch. Und für das Feuilleton zu unpolitisch. Seine Texte haben keine Botschaft, keine Theorie, keine Quellen. Sie benötigen kein Anliegen. Es geht ihnen das Kämpferische ganz und gar ab. Sie belehren nicht, sie bekehren nicht.Sie kommen ganz gut ohne das bedeutungswollende Hilfswerk aus, mit dem sich manche Journalistenprosa einrüsten muss, um einigermaßen gerade zu stehen. Schödel schreibt einfach gute Texte. Und es wissen nicht viele, dass jeder gute Text immer auch ein politischer Text ist. Aber es sind Reportagen, keine Essays, keine Kommentare. Es ist Beobachtetes, Gelerntes, Gelebtes. Es ist eine kleine Ironie, dass der frühere Theaterkritiker und Dramaturg Schödel zu einem der besten und besondersten Reporter der deutschen Sprache wurde. Aber es ist kein Zufall. Dieser Autor hat sich im Lauf der Zeit vom Theater ab- und der Wirklichkeit zugewandt. Denn die Wirklichkeit ist die bessere Bühne und die Fiktionen, mit denen das echte Leben aufwartet, sind durch die der Literatur nur schwer zu übertreffen. Obwohl er aus dem Frankenland stammt, ist Schödel ein geborener Wiener. Er war in Hamburg und München und Berlin, sein Wesen konnte aber nur in Österreichs Hauptstadt zur vollen Entfaltung gelangen, wo Kunstsinn und Kleingeistigkeit in einem epischen Ringkampf liegen und wo es bürgerliche Selbstverständlichkeit ist, die Kunst ernst zu nehmen, und bürgerliche Pflicht, sich gebührend über sie zu empören und dabei immer ein bisschen Raum zu lassen für die mäßigende Erkenntnis, dass keine Wahrheit ewig währt. Schödel ist ein Vertreter der Wiener Moderne après la lettre. Ein Literat der Kaffehäuser, nur dass seine Kaffeehäuser die Kneipen des 2. Wiener Bezirks sind oder des Prenzlauer Berg. Da trifft er die jungen Friseure und die alten Freudenmädchen, die ehemaligen Zuträger der Staatssicherheit, die Trödelhändler und die Versicherungsvertreter.Friedliche TraurigkeitAber Schödels Interesse beschränkt sich nicht auf die klebrige Romantik der Hinterhöfe und Eckkneipen. Mit der gleichen liebenswürdigen Gnadenlosigkeit, die er in Berlin den Gossengestalten angedeihen lässt, nimmt er sich des Tierarzts und der Hundetherapeutin der Wiener Oberschicht an, des reichen Tierretters Michael Aufhauser, des Schauspielers Helmut Berger und des Regisseurs Heribert Sasse – viele der Texte waren im Freitag zu lesen. Sie alle sind immer wiederkehrende Darsteller in Schödels zwischenmenschlicher Komödie, in der eben dieses Liebenswürdige und dieses Gnadenlose zu einer wohlwollenden Resignation und einer friedlichen Traurigkeit verschmelzen, was das Menschliche im Allgemeinen und das Wien-Berlinisch-Urbane im Besonderen angeht. Schödel hat einmal einen Artikel über einen alten Offizier der Nationalen Volksarmee so beendet: „Er ist ein Berliner. Der klassische hoffnungslose Fall: kein Unglücksbewusstsein.“ Man sieht da schon, dass für Schödel gilt, was Robert Musil über Egon Erwin Kisch gesagt hat: Er ist ein „aus der Ewigkeitsschule davongelaufener Dichter“.Und Zürich und der Tennismilliardär? Auf die Auflösung dieser Geschichte warte ich immer noch. Schödel wird es irgendwann erzählen. Er wird darüber schreiben. Es wird großartig werden.
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