Melodien für Millionen

Musik Der Schlagerproduzent Hans R. Beierlein erzählt gern die Anekdote, wie er in den siebziger Jahren angeblich Heino vom Verdacht der Rechtslastigkeit ...

Der Schlagerproduzent Hans R. Beierlein erzählt gern die Anekdote, wie er in den siebziger Jahren angeblich Heino vom Verdacht der Rechtslastigkeit befreit hat. Beierlein, zu dessen Schützlingen Udo Jürgens gehörte und der heute den Volksmusikstar Stefanie Hertel produziert, beauftragte ein demoskopisches Institut mit einer Zielgruppenanalyse. Ergebnis: drei Viertel der Heino-Fans wählten SPD und immerhin 82 Prozent waren DGB-Mitlieder.

Auch wenn diese Anekdote anderes vermuten lässt: Die Ausstellung Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers im Bonner Haus der Geschichte, in der Beierlein in einem Video von seiner Großtat berichtet, ist zwar eine Hommage an den deutschen Schlager mit all seinen Absonderlichkeiten und peinlichen Details, eine kritiklose Heldenschau ist sie jedoch nicht.

Natürlich bewundern die Besucher zunächst den gläsernen Flügel von Udo Jürgens, das Holzfällerhemd von Wolfgang Petry oder die Bühnengarderobe von Zarah Leander - drei von 1.500 Originalobjekten. In einem separaten Kinosaal flimmern Musikfilme. Auf Bildschirmen begrüßt Dieter Thomas Heck die Zuschauer zur ZDF-Hitparade.

Wer es mag, kann sich stundelang berieseln lassen von Jürgen Marcus, der in Anlehnung an die Festivalkultur der Hippies von einem Festival der Liebe singt oder von Katja Ebstein, die sich "Dritte-Welt-bewegt" Sorgen macht um einen Indiojungen aus Peru. Doch kann wohl kaum ein Ausstellungsbesucher, 85.000 waren es bislang, die kritischen Zwischentöne ignorieren, denen diese Präsentation auch Gehör verschafft.

Dort, wo es musikgeschichtlich konkret wird, bleibt es für den Besucher nicht immer so gemütlich, wie es sich die deutsche Schlagerseligkeit gemeinhin wünscht. So erinnern die Ausstellungsmacher an den Missbrauch des Schlagers durch die NS-Diktatur. An die "Wunschkonzerte der Wehrmacht" und an Goebbels obskure Initiative, im Kriegsjahr 1941 das Zeitalter des "optimistischen Schlagers" auszurufen. Der Komponist Friedrich Hollaender (Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt), so erfährt man, emigrierte. Richard Fall (Was machst du mit dem Knie, lieber Hans) wurde in Auschwitz ermordet.

Verstörend ist eine Filmaufnahme mit Heinz Rühmann. Mitten im Zweiten Weltkrieg schmettert der Schauspieler darin eine antienglische, umgetextete Version von Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Der neue Text verherrlicht den Krieg auf demagogische Weise: "Das muss den Ersten Seelord doch erschüttern."

Und auch die etwas besseren Texte kommen zu ihrem Recht. Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen aus dem Jahre 1922 zum Beispiel ist eben kein Vorläufer der MitGröhl­lieder eines Jürgen Drews, Matthias Reim oder Michael Wendler, sondern die volkstümlich-deftige Kritik an den ungerecht verteilten Lasten der Hyperinflation in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Während Gehaltsempfänger sich für ihr Geld damals nämlich immer weniger kaufen konnten, befreite die Geldentwertung Hausbesitzer über Nacht von ihren Hypotheken-Schulden. Sie waren die Gewinner der Krise und konnten feiern.

Ob Unterhaltung, Demagogie oder Geschäft: Der Schlager, das zeigt die empfehlenswerte Ausstellung, ist ein publikumswirksamer Alleskönner. Ohne Gewissen, aber nie ohne Herz. Er ist die "Klangform des dominanten Lebensgefühls, in der zusammenläuft, was die Zeit an musikalischen Materialien bereithält" (Peter Wicke). Die Behauptung von Otto Waalkes, der deutsche Schlager sei bloß eine "Geisteskrankheit", wäre eine Verkürzung.

Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers. Haus der Geschichte, Bonn. Eintritt frei. Noch bis 5. Oktober. Katalog 19,90 EUR

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