Freispruch für Menasse!

Urteil Robert Menasse hat dem ersten Kommissionspräsidenten der EWG Zitate angedichtet. Warum das nicht gut, aber doch kein Skandal ist. Das hohe Feuilletongericht hat getagt
Ausgabe 02/2019

1 Die Anklage: Das war eine Fiktion zu viel

Auch Dichter dürfen nicht lügen, selbst wenn man davon ausgeht, dass ihr Handwerk die literarische Unwahrheit ist. Wenn Robert Menasse nun versucht, seine gefälschten Zitate Walter Hallsteins dadurch zu begründen, dass er als Dichter nicht an die Regeln der alltäglichen Kommunikation gebunden sei, dann instrumentalisiert er die Freiheit der Fiktionalität als Feigenblatt für einen prosaischen Schwindel. Denn diese Freiheit, Personen, Orte oder Ereignisse zu erfinden, setzt voraus, dass der fiktionale Status eines Textes klar markiert wird. Menasse lässt sich in der Welt mit den Worten zitieren: „Was kümmert mich das ‚Wörtliche‘, wenn es mir um den Sinn geht“ – als wäre es ein Privileg des Autors, reale historische Personen zu behandeln wie ein Bauchredner seine Puppe. Der Respekt vor der historischen Person und vor der Historie im Allgemeinen verbietet einen zu freihändigen Umgang. Das gilt in diesem Fall auch für den Roman Die Hauptstadt, wo die Mär einer Rede Hallsteins in Auschwitz ebenfalls verarbeitet wird. Menasses Aussage, „für Romane gelten andere Regeln als für Doktorarbeiten“, ist eine argumentative Nebelkerze. Es hat mit den wissenschaftlichen Maßstäben nichts zu tun, wenn man darauf beharrt, dass es ein Problem ist, wenn man realen Personen nicht existente Sätze und Handlungen zuschreibt. Vor allem hat Menasse die Frage nach der Wahrheit, mit der jetzt auch sein fiktionaler Roman konfrontiert wird, selbst herausgefordert, als er aus der Rede Hallsteins in faktualen Texten eine Tatsache gemacht hat. Johannes Franzen, Literaturwissenschaftler

2 Die Verteidigung: Sein Roman ist völlig zu Recht preisgekrönt

Trotz dieses bestimmt nicht kleinen Fehlers hat er seinen Buchpreis 2017 ja nun wirklich nicht ergaunert. Kritiker jammern schon immer, dass sie warten, auf den richtigen Migrationsroman, den ultimativen Arbeiterroman unserer Zeit. Aber, mal ehrlich, ein sogenannter Europaroman hat wohl keinem so richtig gefehlt. Was bittschön sollte da drinstehen? Wer will ein abgehalftertes EU-Epos lesen, das womöglich in diesem komischen Brüssel spielt, mit tragischen Figuren, die in Schreibtischschubladen wohnen, auf denen Bürokratie steht? Robert Menasse ist das Unwahrscheinliche mit Die Hauptstadt gelungen. Famos leichtfüßig, oft hochkomisch beschreibt er das Treiben der Europäischen Kommission. Das ist aber eben nicht nur köstliche Satire mit EU-Funktionären als schnöden Karrieristen. Menasse beschreibt mit ehrlich zu greifender Tiefe, wie unendlich schwer die Traurigkeit in den Kleidern der Nachkommen der Kriegsgeneration hängt, wie diese krank machende Melancholie immer noch im Körper der vermeintlichsten Nebenfigur wie zum Beispiel dem des Polizisten Brunfaut sitzt. Die Hauptstadt ist also eigentlich ein später Nachkriegsroman – aber dass man der europäischen Idee einen neuen Gründungsmythos einhauchen könnte, daran glaubt ja doch offensichtlich niemand in diesem Brüsseler Apparat. Das Projekt scheitert schon am depressiven Martin Susman von der Generaldirektion Kultur, der sich trotz deutscher Angora-Unterwäsche bei seinem Besuch in Auschwitz furchtbar erkältet. Katharina Schmitz

3 Der Gutachter: Menasses Europa ist größer als Gänsefüschen

Über diesen philologischen Fragestellungen droht vergessen zu werden, worum es Robert Menasse geht: um die fundamentale Frage, ob Europa nur mit oder nur ohne die Nationalstaaten eine Zukunft hat. Dies wird auch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Der Nationalstaat als politische Organisationsform der circa letzten 250 Jahre bestimmt Kooperation und Konflikt zwischen den Völkern. Mit ihm erreichte der überbordende Nationalismus seinen Höhepunkt, indem er sich innerhalb von dreißig Jahren in zwei verheerenden Weltkriegen so sehr diskreditierte, dass Vertreter aller politischen Lager nach 1945 mit ihm keine Zukunft sahen. Nur die unerwartet rasche ökonomische Erholung und das Zerwürfnis der vormaligen Kriegsalliierten bescherten ihm eine rasche Renaissance. Seine vormalige Reputation hat der Nationalstaat aber nie mehr erreicht. In den Krisen der letzten 70 Jahre hat die Diskussion um die Zukunft Europas mit oder ohne Nationalstaaten nie aufgehört, mal mehr und mal weniger. In jüngster Zeit – etwa seit zehn Jahren – wird es wieder mehr. Dies hat zu tun mit dem zunehmenden, nicht nur europaweiten Nationalismus, der immer aggressiver und selbstbewusster wird, hat zu tun mit dem vorgegaukelten Rückzug auf den anheimelnden Nationalstaat, mit der damit versprochenen Abschottung vor all dem, was fremd ist. Diese Auseinandersetzung um die Rolle des Nationalstaates in einem Europa der Zukunft hat Robert Menasse in vielen seiner Schriften und Reden bereichert, jenseits aller Gänsefüßchen. Winfried Böttcher, Politikwissenschaftler

4 Ein Nebenkläger: Den Hallstein gibt es leider auch für EU-Hasser

Nun gut, aber derselbe Hallstein, den Menasse als Zeugen eines hellen Europas der Zukunft herzitiert, gilt in radikalen Anti-EU-Zirkeln allerdings als Agent einer verborgenen Agenda der Europäischen Union. Dabei berufen sie sich auf einen Vortrag, den Hallstein nach Lage der Dinge tatsächlich gehalten hat. Am 23. Januar 1939 sprach er in Rostock über „Die Rechtseinheit Großdeutschlands“. Hallstein war nicht nur Mitglied in den juristischen Organisationen der Nazis, er war auch in einer Arbeitsgemeinschaft, die die juristische Basis für eine europaweite Diktatur ausarbeiten sollte. Die juristische Fundierung des nazideutschen Expansionsdrangs bildet den Kern seines Vortrags. Darin fordert er „ein ‚Sofortprogramm der Rechtsvereinheitlichung‘, welches mithilfe von gesetzgeberischen Direktiven operiert. Nachdem Hallstein schließlich ins Präsidentenamt der Europäischen Kommission gelangte, wurde dieser Ansatz, diktatorische Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, nahezu deckungsgleich übernommen und existiert in Form von EU-Direktiven bis heute“, heißt es auf einer der Webseiten, die Hallstein dämonisieren. Tenor: Als Hallstein 1957 die Römischen Verträge für Deutschland abzeichnete, habe er eine zweite Chance gesehen, seine imperialen Träume zu verwirklichen. Diese Fiktion einer finsteren Verschwörung, die schließlich die „Diktatur“ der „Brüsseler EU“ geschaffen habe, erscheint als Zerrbild der humanen Bezugnahme auf Hallstein. Mit Adorno gesagt: Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis. Michael Angele

5 Das hohe Gericht: Das Ganze ist ein Skandal für Betriebsnudeln

Natürlich ist es unlauter, Personen mit Sätzen zu zitieren, die sie so nicht gesagt haben. Und es ist falsch, Historisches über Auschwitz zu behaupten, ohne es auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft zu haben. Robert Menasse hat beides getan. Wie sehr muss man das zum Skandal machen? Steigt man vom hohen moralischen Ross herab, wo eine Lüge eine Lüge ist, sonst nichts, und fragt, was Menasse denn bezwecken wollte, wird man schwerlich niedere Motive finden. Trotzdem: gut gemeint ist nicht automatisch gut. Manchmal ist es schädlich. Hat Menasse die Glaubwürdigkeit der europäischen Idee beschädigt, wie manche nun unken? Eine Antwort hängt davon ab, wie man seinen Beitrag dazu, dass die von Finanz- und Flüchtlingskrisen, vom Brexit und vom Populismus gebeutelte EU nicht auseinanderbricht, bewertet. Ja, Europa war auch immer eine Idee. Es ist aber auch eine Gemeinschaft mit (noch) 28 Mitgliedstaaten, ein Wirtschaftsraum mit mehr als 500 Millionen Menschen. Die dürfen sich weder aus ökonomischen noch anderen Gründen ausgeschlossen fühlen, wenn die Gemeinschaft nicht scheitern soll. Ideen werden erst da wirklich wirksam, wo es stabile Strukturen und Institutionen gibt, die sie tragen. Nicht andersherum. Wer glaubt, dass es nur auf gute Geschichten ankommt und dass Europa mit Spektakeln auf Theaterbühnen steht und fällt, wird höchst skandalös finden, was Menasse getan hat. Die anderen werden die Nase rümpfen, wieder an die Arbeit gehen und das nächste Mal hoffentlich genauer hinhören, wenn ihnen jemand von der Gründung Europas erzählt. Mladen Gladić

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