Menschen mit warmen Händen

Feindbilder Als Ersten erwischte es den alten Gustav. Nichts Böses ahnend hüpfte er in der Nähe der Straße spazieren, als plötzlich vier riesige Stiefel vor ihm ...

Als Ersten erwischte es den alten Gustav. Nichts Böses ahnend hüpfte er in der Nähe der Straße spazieren, als plötzlich vier riesige Stiefel vor ihm auftauchten, in denen zwei junge Naturschützer steckten. Gustav wurde hochgehoben, über die Straße getragen und auf der anderen Seite tief im Wald wieder ausgesetzt. Die beiden glaubten nämlich, der alte Gustav wolle auf der anderen Straßenseite laichen. Wenn er an die warmen Menschenhände denkt, muss sich Gustav noch heute vor Ekel schütteln.

Für den Rückweg brauchte Gustav, der es mit den Sprunggelenken hat, volle zwei Tage. Mehrfach verhüpfte er sich, da er zuvor noch nie auf dieser Seite der Straße gewesen war. Man muss wissen: Die Kröten von der linken und rechten Seite des Feuchtbiotops können einander nicht sonderlich gut leiden. Zwar weiß niemand mehr den Grund für die gegenseitige Antipathie, aber Traditionsbewusstsein ist eben nicht nur unter den Menschen verbreitet. Besonders gefährlich war für Gustav die Rücküberquerung der Straße. Nachdem er völlig erschöpft die Fahrbahnmitte erreicht hatte, kam zu allem Übel ein Auto mit einem höchst rabiaten Fahrer am Steuer. Als dieser der Kröte ansichtig wurde, leitete er sofort ein Lenkmanöver ein, erwischte unseren Gustav aber zum Glück trotzdem nicht. Vor Schreck schaffte es Gustav nicht einmal, sich das polizeiliche Kennzeichen zu merken.

Kaum im heimatlichen Gefilde angekommen, lauerte eine noch weitaus bedrohlichere Gefahr auf Gustav: zwei weitere junge Naturschützer. Schnell stellte sich Gustav tot und rettete damit vielleicht sein Leben.

In den folgenden Tagen spielten sich in der Krötenkolonie grauenhafte Szenen ab. Kinder verschwanden, Familien wurden auseinandergerissen. Dafür tauchten immer mehr fremde Kröten auf, irrten weinend durch den Wald und wollten nach Hause. Kehrte ein Vermisster nach ein paar Tagen zurück, war die Freude groß. Aber einige fanden auf der Straße ein viel zu frühes, sinnloses Ende, darunter die drei tapferen Verkehrslotsen. Einziger Trost: keiner musste lange leiden.

Die Heimatzeitung meldete eine besonders intensive Krötenwanderung in diesem Jahr und dankte den jungen Naturschützern für ihre aufopferungsvolle Tätigkeit.

Als die Kidnapper immer weiter in den Sumpf vorstießen, zogen sich die Kröten in ihrer Not auf einen trockenen, unwirtlichen, rund 600 Meter entfernten Sandstreifen zurück. Es half ihnen nichts; sie wurden auch dort ergriffen und unbarmherzig über die Straße getragen - zum Laichen!

Die Kröten waren verzweifelt. Sie forderten Schutzzäune gegen die Naturschützer, doch ihre Proteste wurden von den Behörden als das übliche Gequake abgetan. Was sie bekamen, war eine Krötenbarriere entlang der Straße, die sie zwang, lange Umwege in Kauf zu nehmen, wenn sie wieder zu ihren Lieben wollten.

Aber dann kamen Bauarbeiter, rissen die Fahrbahn auf, verlegten Röhren und bauten mit viel Beton einen Krötentunnel. Aus Krötenperspektive mutete die Anlage an wie die Maginotlinie. Umweltorganisationen und Naturschutzbehörden waren sich bei der Einweihung einig, dass die Anlage zur Verbesserung der natürlichen Lebensbedingungen der Kröten beitragen würde. Zwar war der Tunnel schon nach Tagen vollgestopft mit Laub und Cola-Büchsen, und damit unpassierbar. Aber ihn benutzte ja sowieso niemand. Die Kröten lieben ihn trotzdem und finden die Investition voll gerechtfertigt, denn immerhin werden sie jetzt nicht mehr über die Straße getragen.

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