Der Mobilfunksektor bleibt in Bewegung. Das Überangebot auf dem europäischen Markt und ein schonungsloser Preiskampf treiben viele Unternehmen in Existenznot oder Übernahme. Analysten prophezeien für das nächste Jahr ein Sterben von regionalen Anbietern zugunsten weniger Branchenriesen. Davon kaum berührt ist der finnische Handy-Hersteller und Marktführer Nokia. Probleme bei der Spitzentechnologie kompensiert der Konzern mit schrillem Design. Er setzt 2003 ganz auf Farbdisplays.
Als vor Monaten Nokia-Boss Jorma Ollila laut darüber nachdachte, ob sich sein Unternehmen Finnlands rigides Steuersystem wirklich zumuten sollte, schrillten bei vielen Finnen die Alarmglocken: Mit einem Marktanteil von über 30 Prozent und Handy-Verkaufszahlen im dreistell
ndy-Verkaufszahlen im dreistelligen Millionenbereich ist Nokia nicht nur weltweit führende Hersteller mobiler Telefone, sondern auch ein mächtiger Eckpfeiler der nationalen Ökonomie. Jahrzehnte lang stand das 1865 gegründete Unternehmen für die Produktion von Toilettenpapier, Kabeln und Gummistiefeln. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts kamen Fernsehgeräte und Computer hinzu. Ende der Achtziger begann unter Ollilas Vorgänger Kari Kairamo die radikale Neuprofilierung als global agierendes Telekommunikationsunternehmen - mit dramatischen Konsequenzen für die Wirtschaft des knapp fünf Millionen Einwohner zählenden Landes. So wuchs in den neunziger Jahren Nokias Anteil am nationalen Gesamtexport von knapp fünf auf über 25 Prozent. Im Jahr 2000 produzierte das Unternehmen rund vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und beschäftigte gut ein Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund kann nicht erstaunen, dass Nokia und Finnland fast zu Synonymen wurden - frei nach dem Motto: Kränkelt Nokia, leiden wir alle. Die weit verbreitete Identifizierung spiegelt sich auch im offiziellen Selbstverständnis Nokias als "internationalem Unternehmen mit finnischer Seele". Pragmatismus und schönes DesignDer nationale Bezug hat auch dazu geführt, dass der Konzern für jene Probleme weniger anfällig scheint, mit denen die New Economy seit geraumer Zeit zu kämpfen hat. Nokias Erfolg - der vielbeschworene "Nokia Way" - ruht auf drei mächtigen Säulen: Der typisch finnischen Ablehnung starrer sozialer Strukturen, bevorzugt werden stattdessen flache Hierarchien, die dem Einzelnen optimale Voraussetzungen für kreatives Arbeiten bieten. Der "finnische Egalitarismus" hat Nokia von Anfang an zu einem leidenschaftlichen Verfechter von Fair Play im internationalen IT-Geschäft gemacht, man denke an ein beharrliches Eintreten für offene Telekommunikationsstandards oder die Vorreiterrolle beim Schmieden strategischer Technologie-Allianzen. Zweitens beruht Nokias Aufstieg auf seiner sprichwörtlichen Bodenständigkeit: Die Erforschung und Entwicklung neuer Produkte durch Finnen in Finnland, das heißt, durch ebenso weltoffene wie nationalbewusste Menschen abseits der großen Zentren sowie die typisch finnische Orientierung auf Design-Lösungen, bei denen Nützlichkeit und Schönheit eine untrennbare Einheit bilden - sie haben dem Unternehmen immer wieder erhebliche Vorteile im globalen Wettbewerb beschert.Schließlich ist Nokia stets gut damit gefahren, Probleme mit langem Atem und einer gehörigen Portion Pragmatismus anzugehen. Dafür bürgt Risto Linturi, einer der wichtigsten IT-Visionäre Finnlands. Um für sich und seine Familie ein Haus zu bauen, habe er einst zehn Jahre lang Zeitungsannoncen studiert, bis er ein passendes Stück Land auf einer Insel unweit Helsinkis fand. Dann sei er sechs Monate damit beschäftigt gewesen, die lokalen Felsformationen und Bäume zu studieren, immer auf der Suche nach dem optimalen Standort für das geplante Haus. Nachdem der Rohbau fertig gestellt war, habe er es nach allen Regeln der Kunst verkabelt. Dennoch befinde sich in einer archaischen Hütte gleich nebenan ein 1916 gefertigtes Telefon von Ericsson Co. aus Stockholm. Auch verfüge das Grundstück über eine Sauna sowie einen Brunnen. Linturi: "Falls alles zusammenbricht, würden wir dennoch überleben."Derart visionärer Pragmatismus, so nicht wenige Nokia-Jünger, sei typisch finnisch und damit auch typisch für Nokia. So habe man seine Vision der mobilen Informationsgesellschaft bereits in den späten achtziger Jahren entwickelt, als es im Auftrag der finnischen Streitkräfte erstmals ernsthaft um UMTS-Technik ging. Früher als andere habe Nokia erkannt, dass der technologischen Komplexität künftiger gesellschaftlicher Kommunikation nur gerecht werden könne, wer strategische Allianzen mit der Konkurrenz eingehe. An eben solchen Verbindungen hat Nokia in den neunziger Jahren beharrlich gearbeitet. Die daraus hervorgegangenen Technologien (WAP, EPOC, Bluetooth) haben erheblich zur Humanisierung derzeitiger Kommunikationsmittel beigetragen. Dennoch zeigt sich natürlich auch hinter dem allseits bekannten Nokia-Slogan "Connecting People" viel Mythologie. Stichwort: menschlicher Faktor. Als sich Nokia Ende der achtziger Jahre als Telekommunikationsunternehmen neu erfand, spielte der keine allzu große Rolle: 1988 zählte man eine Belegschaft von 44.600 Angestelltem, davon 21.500 in Finnland. Nach der Restrukturierung waren es nur noch 26.800 beziehungsweise 13.800 in der Heimat. Zwar hat sich die Zahl der Beschäftigten bis Ende der neunziger Jahre erneut verdoppelt, doch gehört nun ein Drittel aller Mitarbeiter weniger als zwei Jahre zur Firma. Mythen und menschlicher FaktorIm Übrigen machen die Probleme der New Economy auch um Nokia keinen Bogen. 2001 wurden rund 1.500 Angestellte gefeuert. Stichwort: offene Telekommunikationsstandards. Mit Ethik hatte das wenig zu tun, wohl aber mit knallharten betriebswirtschaftlichen Überlegungen. Nachdem sich das Unternehmen gegen die Eigenproduktion von Komponenten entschieden und seine Rolle bei der Herstellung innovativer Spitzentechnologie merklich reduziert hatte, blieb einfach keine andere strategische Option als der Kampf für offene Standards.Auch mit der vielbeschworenen Bodenständigkeit ist es nicht mehr weit her. Spätestens seit Mitte der Neunziger ist man alles andere als ein finnisches Unternehmen. "Connecting People - Disconnecting Families" - so erfuhren es bald viele Nokianer, die im Firmenauftrag quer über den Erdball gejagt wurden. Internationalisierung gab es besonders bei Forschung und Entwicklung. Im Jahr 2000 unterhielt das Unternehmen 52 entsprechende Einrichtungen in 14 Ländern mit rund 18.000 Angestellten, von denen lediglich tausend aus Finnland stammten. Ähnliches gilt für Nokias berühmtes Finnish Design, das zwischenzeitlich stärker von Sony als von Designer Alvar Aalto inspiriert ist.Als größter Mythos jedoch erweist sich Nokias "visionärer Pragmatismus." Natürlich wollte der überaus ehrgeizige Jorma Ollila stets mehr als einem einfachen Handy-Produzenten vorstehen. Strategische Allianzen schienen ihm der beste Weg zu sein, einen Fuß in kritische Technologie-Bereiche der Zukunft zu bekommen. Sehr erfolgreich war er dabei freilich nicht: Mit knapp 70 Prozent Anteil am gesamten Produktionsvolumen bildet Nokia Mobile Phones nach wie vor das Rückgrat des Ollila-Imperiums. Andere Geschäftsbereiche (Nokia Networks, Nokia Communication Products, Nokia Ventures Organization) führen seit Jahren ein Schattendasein. Immer wieder hat Ollila versucht, die Probleme bei der Meisterung innovativer Spitzentechnologie durch schrille Design-Initiativen sowie aggressives Branding zu kompensieren: "Kommunikation ist Erfahrung. Wir sind in einem Gewerbe tätig, das Menschen Erfahrungen offeriert", outete er sich Ende 1999 endgültig als postmoderner Ideologe, für den Form wichtiger als Substanz ist. Für ein Technologie-Unternehmen wie Nokia eine eher fatale Geschäftsgrundlage.