Wovon Theaterstücke selten handeln Diether Dehms "Milchmädchen-Report" will auf die Bühne bringen, was die Welt bewegt - Geld und Liebe beziehungsweise Aktien und Sex
Theaterstücke, in denen die Bewegung der Geldströme zum Thema und Satzhülsen wie "Der Dax testete die Marke von 3.700" zum Konversationston gehören, sind ganz selten. Auch solche, in denen en passant gezeigt wird, wie internationaler Terrorismus und seine Zerschlagung nötig sind, um Shareholder Value zu mehren und dass eine befreiende "Entladung" von aktienfinanzierter Waffen- und Wiederaufbautechnologie inszeniert werden kann: Klar und ohne Getöse läuft dies Szenarium als Hintergrundgeschehen des Stückes mit ab. Manchem wird mulmig. Christoph Schlingensief bräuchte für diese inhaltliche Unterfütterung wahrscheinlich eine lange Aktionswoche mit viel Geschrei. In Kassel, in der kleinen frizz-Dependance des Staatstheaters, geht es unter
geht es unter der Regie von Andreas Buettner knapper und härter zu. Schauplatz (Einheit von Ort und Zeit der Handlung) ist eine deutsche Musikbranchen-Fete, die Hauptperson ist die Texterin von gehobenen Schlagern, Michaela Sarkow (Berit Mücke), alt-links und lesbisch, als Dialog- (und leider manchmal nur Stichwort-)partner dienen ihre spirituell bewegte Verlegerin (Anja-Carmen Höhne) und deren stotternder, zutiefst sexual-materialistisch analysierender Gespons (Benjamin Kernen). Als Teufelchen, das stets das Gute zu wollen scheint und damit an dem Bösen mitschafft, dem es den Kampf angesagt hat, taucht dann und wann ein junger Dichter auf, zunächst mit schlechten Versen und einer Unterschriften-Liste zur Rettung Kubas, später mit Halluzinationen betreffend Luther, Che und Christus, am Ende als der Verkünder jener hochpreschenden Aktienkurse, die man gerade dem Bombardement Libyens verdankt ("selbst die Uno erfuhr von dem Ultimatum an Ghaddafi erst, da war es schon abgelaufen"). Jan Bischof, der Darsteller des Dichterlings, gibt behende auch diverse Partygäste von klischierter Blöd-Art, in deren Geblubber sich Zeitgeist-Journaille und Pop-Literatentum treffen. Auf der Party anwesend sind Wolf Biermann mit Marius-Müller-Westernhagen, zwei "Staatskünstler" gewissermaßen, Selbstdarsteller jenes Individualismus, der nie eine Übereinkunft der herrschenden Klasse verletzen wird, aber sich munter dort austobt, wo nach den Worten eines Ministerpräsidenten, der als Wolfgang Stoiber und Edmund Clement zugleich auf das Partyvolk einredet, auch der genuine Platz für die Volksvertreter ist: "Credibility - das ist die moralische Messlatte bei der Verschmelzung von Politik und elektronischer Unterhaltungsindustrie ..." Es ist ein altertümliches Welt- und Wertebild, das sich im Milchmädchenreport entfaltet. Besser: Hinter den Rissen und Brüchen des Stückes als Korrekturfolie durchschimmert. Autor Diether Dehm - mit einer Heinz-Schenk-Parodie auf der Party und also im Theaterraum anwesend - weiß, wovon die Figuren sprechen. Als Texter erfolgreicher Popsongs wie Tausendmal berührt oder Monopoly kennt er die Untiefen der Musikbranche, als Mit-Initiator solcher Initiativen wie Künstler in Aktion ist ihm linker Mittelstand wohlvertraut - jene "Gutmenschen", die im letzten Jahrzehnt, wenn sie blieben, wie sie waren (und erbleichten), ganz in die Defensive geraten sind. Seit das Gegengewicht zum Kapitalismus, die wie immer auch fragwürdige Alternative sozialistischen Planens und Wohlfahrtsdenkens, nicht mehr weiter existiert. Die Korrekturfolie ist längst nicht mehr unbeschädigt. Es herrscht ein Kampf nach anderen Regeln. Michaela Sarkow hat sich auf Kuba in eine Sängerin verliebt. Sie nähert sich ihr zunächst schüchtern, erst, als sie hartes Geld einsetzt, beginnt das Spiel. Die Liebhaberin wird Besitzerin. Der stotternde Partyfreund, der Michaela ihr erotisches Tagebuch entwunden hat und daraus den ganzen Abend lang vorliest, stellt mit geilem Entsetzen fest, wie männlich sexbetont sie agiert hat: Geld als Machtdroge. Natürlichkeit vertilgend oder erst wachkitzelnd? ("Ich zog ihr triefendes Näschen in meine Fotze" - Mulm im Zuschauerraum.) Jedenfalls kann Michaela von der Sängerin nicht lassen, auch nicht als jene nierenkrank und hilfsbedürftig wird. Sie verspricht ihr eine teure Operation. Dafür spekuliert sie mit Wertpapieren. Ab jetzt kontrastieren die sinnlich-stürmischen Tagebuchnotizen mit Michaelas Schilderungen ihrer zunehmenden Verstrickung in die schweigende Kunstwelt (das "Aquarium") der Finanzströme und einer damit einhergehenden ganz anders gearteten Erotisierung: Der Geldberater wird ihr zum "Tangotänzer", die Texterin mädchenhaft-anklammernd - zumal, als sie nur noch verliert und verarmt. Auch hier wieder: Natürlichkeit unterdrückend oder erst wachkitzelnd? - gibt sich die ehemals Wohlhabende in die Hand des "Satans" Mammon, wie ihre Verlegerin wähnt, oder tut sie unter den Kapitalbedingungen nur das Menschenmögliche, um ihrer Freundin zu helfen? Am Ende wird Michaela Sarkow "natürlich" schlagartig reich dank des in Schutt gelegten Tripolis, bekommt noch einen Schlager-Preis für ein Musikstück, das sie der Geliebten verdankte, die, wie wir en passant erfahren, vor kurzem starb. Wie damit leben? Wir haben ein paar Menschen bei ihren Versuchen zugesehen, an einer glatten Wand der ewigen Verweise und Sinntilgungen Halt zu finden. Es war komisch und verzweifelnd. Eine Schwäche des Abends: Vielleicht das viele Reden. Einmal springen alle auf die Stühle und singen wie berauscht: "It´s raining men", zwei große Minuten lang. Perfekter Ausdruck für diese aus dem Ruder laufende Welt an einem dichten Theaterabend.
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