Als die Dokumentarfilminitiative Nordrhein-Westfalen letztes Jahr einen Workshop für Filmemacher zum Thema Rechtlicher Umgang mit Protagonisten im Dokumentarfilm anbot, schneite es bei Programmleiterin Petra L. Schmitz Beschwerdebriefe wie noch nie. Es war offenbar der Begriff "Protagonist", der vielen der eingeladenen Filmemacherinnen und Filmemacher als Unwort aufstieß und Selbstverständnis und Sensibilität in besonderer Weise traf: Schließlich ist für die meisten von ihnen der Umgang mit menschlichen Helden ein zentrales Problemfeld der alltäglichen Arbeit.
Dabei sind die Sprechweisen naturgemäß je nach dokumentarischem Ansatz und Temperament verschieden. So spricht Jürgen Böttcher von den "Menschen in meinem Filmen", Ulrich Seidl vo
, Ulrich Seidl von "Darstellern", je nach Konzept ist auch von Mitwirkenden, Helden, oder - im journalistischen Kontext - Informanten die Rede. In der Filmwissenschaft hat sich der Begriff der "sozialen Akteure" eingebürgert, um deutlich zu machen, dass auch der dokumentarische Protagonist nicht ist, sondern agiert, wenn auch in vermeintlich eigener Sache. Das Wort selbst kommt aus dem Alt-Griechischen, in der griechischen Tragödie war der "erste Kämpfer" die Hauptperson (nicht der Hauptdarsteller) des Stückes, dem dann der Deuteragonist etc. folgte. In ähnlicher Bedeutung wurde der Begriff dann in die Analyse anderer narrativer Kunstformen und des Kinos übernommen. Bei der Übertragung auf dokumentarische Filme wurde der "Protagonist" dann von der Hauptperson auch gleich zum Hauptdarsteller in Personalunion.Im wachsenden Markt für dokumentarische Filme haben diejenigen mit menschlichen Helden - neben den Tierfilmen - traditionell den größten Anteil. Eine Tendenz, die sich in den letzten Jahren vor allem im Fernsehen verstärkt, wo neue hochgradig personalisierte Formate wie Dokusoaps und Reality-TV zunehmend Terrain gewinnen. Auch die soziale Reportage bekommt im Fernsehen eigentlich nur noch in personalisierter Form einen Platz. Und auch im Kino scheint sich in den letzten Jahren das über Jahrzehnte eingespielte Kräfteverhältnis zwischen Produzenten und ihren Protagonisten zunehmend zu problematisieren, wie in Europa vor einigen Jahren prominent der Fall des französischen Dokumentarfilmers Nicolas Philibert zeigte. Er wurde von dem Lehrer George Lopez, dem "Hauptdarsteller" seines Films Sein und Haben auf insgesamt über 300.000 Euro Schadensersatz wegen "Diebstahl geistigen Eigentums" und "Verletzung des Rechts am eigenen Bild" verklagt. Lopez verlor. In den USA aber stehen ähnliche Prozesse mittlerweile auf der Tagesordnung. Das Selbstbewusstsein der in Dokumentarfilmen Mitwirkenden wächst von Jahr zu Jahr.Seit dem Beginn der Filmgeschichte spielen im dokumentarischen Kino naturgemäß Menschen eine tragende Rolle. Dabei war dem sensationslüsternen Blick des frühen Kinos der Status seiner Akteure gleichgültig, ob das nun die Arbeiter des Fabrikdirektors Lumière waren, Artisten, sogenannte Wilde oder die vielen gekrönten Häupter, vor denen die Kamera aufgestellt wurde. Das änderte sich mit Robert Flahertys Nanook of the North (1923), der nicht nur seinen Regisseur, sondern auch den Helden in den USA und Europa berühmt machte. Der Inuit Nanook wurde zum Pionier eines neuen Genres und zum Wegbereiter eines Schwungs ähnlich romantisierend ethnographischer Filme, die ihre Helden beim dramatischen Überlebenskampf gegen Umwelt und Natur zeigten. Nanook markiert aber noch in anderer Hinsicht einen wichtigen Wendepunkt: Spätestens hier war der dokumentarische Held auch zum Selbst"darsteller" geworden, der meist idealisierte Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit des eigenen Stammeslebens für die Kamera nachspielt.Der Weg von Flahertys Nanook zur Geschichte vom weinenden Kamel ist kürzer als die Spanne unterschiedlichster Formen, die heute unter dem Genre des Dokumentarischen subsumiert werden: Von der ausufernden "teilnehmenden Beobachtung" bis zum zersplitterten Zeitzeugen-Interview, vom Einzelporträt zur Doku-Soap ist die Grenze zum Journalistischen wie Fiktionalen dabei zunehmend fließend. Für die Akteure selbst liegt der wesentliche Unterschied zum Spielfilm wohl darin, dass es dort klar formulierten Arbeitsverträge gibt, die nicht nur Honorare, sondern auch Aufgaben und Rechte der Partner regeln, während im Dokumentarfilm bisher vieles informell gehandhabt wurde. Allerdings findet gerade in diesem Punkt derzeit ein Umbruch statt, der vor allem durch den Wunsch der an jedem größeren Dokumentarstück beteiligten Fernsehsender nach rechtlicher Absicherung getragen ist und sich praktisch in umfassenden vorgefertigten Formularen materialisiert, die von den Mitwirkenden dokumentarischer Filme unterzeichnet werden müssen. Solche "Einverständniserklärungen" gab es auch vorher schon: Waren diese bisher aber oft nur in einer Drehpause hingekritzelte Zettelchen, so schreckt jetzt etwa das entsprechende ZDF-Standard-Formular mit seinen auf zwanzig Seiten aufgeblätterten Abtretungserklärungen sämtlicher für Normalmenschen kaum imaginierbarer Rechte auch eigentlich teilnahmebereite Protagonisten ab. Viele Regisseure und Regisseurinnen, die es ihrem Sender gegenüber durchsetzen können, versuchen deshalb auch heute, auf diese papierne Absicherung zu verzichten und auf das zwischenmenschliche Vertrauen zu setzen. Schließlich dürfte es auch in Zukunft schwer sein, einem sozialen Akteur vertraglich vorzuschreiben, welche Aktionen, Gefühlsausbrüche, Geständnisse und Pointen er genau zu liefern hat, geschweige denn, diese dann vor Gericht einzuklagen.Der wesentlicher Grund für die bisher so wenig verrechtlichten Verhältnisse liegt wohl vor allem in der traditionellen Verwurzelung dokumentarischen Filmschaffens in den sozialen Bewegungen, die das Filmemachen als Bündnis aller Beteiligten im Dienste einer gemeinsamen Sache verstand. Klaus Wildenhahn sprach einmal von den "Betroffenen", die im Dokumentarfilm "zu Wort kommen": Für das Ausagieren gegensätzlicher materieller Interessen ist in einem solchen Konzept kein Platz. Es bestand aber auch kein Bedarf, da das Dokumentarfilmen eine Tätigkeit war, mit der keiner der Beteiligten reich werden konnte. Seit einiger Zeit zeigt sich aber, dass - vor allem im globalen Fernsehmarkt - auch mit dokumentarischen Formaten einiges Geld zu machen ist.Ein Erfolgsdruck, dem die Produzenten mit zunehmender Marktausrichtung ihrer Produkte begegnen und der sich indirekt auch auf die Protagonisten fortsetzt, deren Funktionieren ja einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen liefert. Zudem weist auch die zunehmende Emotionalisierung und Personalisierung des Genres den Protagonisten eine immer bedeutendere Rolle zu. Wer einen aufwühlenden Film erzählen will, braucht Charaktere, die diese Emotionen auch lebendig und mitreißend darstellen können. Dabei müssen die sozialen Akteure nicht nur wahrhaftig sein, sondern dabei auch noch spontan und originell erscheinen. Wie die Berliner Filmemacherin Aelrun Goette es ausdrückte: "Wenn ich Personen in den Mittelpunkt stelle, die keine (visuelle) Präsenz haben, bin ich verloren."Natürlich ist auch das nichts grundsätzlich Neues. Schon Flaherty hat seine Darsteller gecastet, allerdings damals nicht nach Kriterien der Tele-Tauglichkeit, sondern danach, ob sie möglichst typische und kompetente Vertreter ihrer Ethnie zu sein schienen. Und als die DFI vor zwei Wochen noch einmal im größerem Rahmen zu einem Symposium zum Thema Protagonisten im Dokumentarfilm nach Köln einlud, wurde von verschiedenen Beteiligten immer wieder Georg Stefan Trollers Wir sind alle Menschenfresser zitiert. Dass dieser Kannibalismus in der heutigen Medienrealität allerdings industrielle Maßstäbe angenommen hat, machte der Journalist Fritz Wolf in seinem Eröffnungsreferat über "Menschen in Versuchsanordnungen" deutlich. Was schließlich sind Formate wie Big Brother oder Schwarzwaldhaus anderes als Menschenversuche am lebenden Objekt?Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die in Lumières Arbeiter verlassen die Fabrik der Kamera entgegenstolperten, waren noch ganz naiv im Umgang mit dem Kasten, der ihnen da vor dem Fabriktor im Weg stand. Heute sind junge Menschen weltweit im Umgang mit Medien gut geübt und kennen kritische Argumente ebenso wie Inszenierungsweisen und geschäftliche Spekulationen aus der Boulevardpresse. Und auch sonst bleiben Selbstbewusstsein und Verhalten der Akteure nicht unberührt von einer gesellschaftlichen Entwicklung, die von uns zunehmend erwartet, neben Fähig- und Fertigkeiten auch unsere Persönlichkeit auf den Markt einzubringen. Auch das Persönlichkeitsbild vieler neuer Filmformate wie Bewerbungs- und Casting-Shows ist ja mittlerweile wesentlich auf die Durchsetzungsfähigkeit im Konkurrenzkampf zurechtgeschnitten. Das Publikum lernt. Und wenn ein Jan Ullrich Hunderttausende jährlich kassiert, weil er ab und an für Interviews bereit steht, warum soll Lieschen Müller dann nur für gute Worte wochenlang ein Kamerateam in ihrer Wohnung akzeptieren? So reagieren manche Produzenten von Dokumentarischem auf das zunehmende Risiko, das menschliche Protagonisten für ihre Projekte auch bedeuten, mit einer Art vorbeugenden Abwehrstrategie. Sie etablieren ästhetische Methoden, die menschliche Präsenz durch die filmische Form so zu gestalten, dass die emotionale Wirkung unabhängig vom jeweiligen Agieren gesichert ist: Schnitt und suggestive Begleitmusik tun schon ihre Arbeit. Bestes Beispiele hierfür sind die Werke von Guido Knopp.Eine neue Runde im Zerren um eigene Bilder, Geschichten und materiellem Erfolg wird derzeit mit Videoplattformen wie you tube eröffnet, wo Internet-Nutzer eigene Filmchen zur allgemeinen Ansicht ins Netz stellen können. Im Idealfall sind hier Protagonisten und Produzenten identisch. Überprüfen kann Autorschaft und Authentizität in der Praxis niemand mehr. So sind ausgerechnet in der abstrakt hyper-demokratischen Marktsituation der offenen Plattform dem Missbrauch Tor und Tür geöffnet. Über die Folgen für die anderen Formen und Formate lässt sich bisher nur spekulieren. Sie werden aber gewaltig sein.
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