Sachlich richtig Geschichtsbücher erinnern dran: Das Vergessen-Wollen ist eine schlechte Technik. Oder warum eine Auswahl von Theodor-Heuss-Briefen in jeden Haushalt gehört
So viel Geschichte war nie. So wenig ebenfalls. Wolfgang Hardtwig, ein älterer Historiker, der neuen Formen der Geschichtsvermittlung, selbst Comics und Computerspielen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen ist, bleibt skeptisch: „Die Massenmedien greifen Nachrichten über die Vergangenheit vor allem dann gern auf, wenn sie moralisierungsfähig sind.“ Historischer Wissenserwerb im Modus der Unterhaltung führe hinterrücks zum Verlust von „Geschichte als Handlungsorientierung“. Ins Drastische übersetzt: Unterhaltsame Geschichte, zeigt er, ist Motor einer Dauermoralisierung, unter der die Erregungsgesellschaft auf der Stelle rotiert, statt sich zur Zukunft hin zu öffnen.
Ein im Effekt totalitäres Wächtertum de
htertum der unsichtbaren Medienhand treibt uns Geschichte als rationale Handlungsorientierung aus. Denn die beruhte auf mühevollem Analysieren, nüchternem Blick auf Tradition – und deren Kritik. Dass die Geschichtswissenschaft gefordert ist, macht Hardtwig klar. Nur wie sie „moderierende, mediengewandte Akteure“ produziert, die gleichwohl am wissenschaftlichen Wahrheitsideal festhalten, das bleibt offen. Schon gar, wie diese denn hinreichend medial präsent sein könnten.Das Metternich’sche System, Inbegriff des Absolutistischen, Reaktionären, ist so in die kollektive Geschichtsmythologie hineinerzählt, dass weiland Müntefering zum „Metternich der SPD“ ausgerufen werden konnte. Wenn es nun aber anders wäre? Der Historiker Wolfram Siemann führt es vor. Sein schmales Bändchen hat es in sich. Wenn man sich nicht zwanghaft ans Gewohnte klammert, bekommt man hier einen Blick auf die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der in kompakter Übersichtlichkeit doch erstaunlich differenziert wahrnimmt. Aus der Perspektive der damaligen ZeitNicht aus der rechthaberischen Perspektive ex post, sondern aus der damaligen Zeit und ihrer offenen Optionen erzählt, zeigt die Studie, wie viel komplexer die Lage war als demokratischer Freiheitsdurst hie und knechtender Bösewicht dort: eine Zeit unablässig partikularisierender Aufstände allenthalben, immer tiefer verstrickt in die Aporien der Nationalismen – was sollte zum Beispiel im ungarisch sprechenden Ungarn mit den nicht ungarisch Sprechenden geschehen? Sie erinnert darin wie in ihrem Krisenmanagement stark an die unsere, zumal an den heillosen Regional- und Sozialklientelismus. Es geht nun aber gar nicht darum, andersherum Recht zu haben, sondern um einen skeptischen und zukunftsoffeneren Blick auf die Geschichte. Und darin ist dieser schmale Band groß!In jeden Haushalt müsste eine von Kommentarexzessen abgespeckte Version des folgenden Buchs gelangen: Theodor Heuss, der sich verbat „Papa“ genannt zu werden, der Ratschläge zum Rauchen ebenso wenig annahm wie labbrigen Klosterlikör, hat als Bundespräsident zehn Jahre lang Briefe mit seinen Bürgern gewechselt. Eine Auswahl zeigt ihn als Ironiker und Sarkasten, der stets offen und fadengerade dem pöbelnden, lamentierenden, schleimenden oder belehrenden Volk die Meinung sagte. Frechheit oder Dummheit?Die Bitte eines Sportstudenten, der ausgerechnet ihn um Lob auf Turnvater Jahn bittet, ist ihm etwas, das „den Begriff der Naivität überrundet“. Er fragt schon mal nach, ob es sich um „Frechheit oder Dummheit“ handele. Einen, der die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen fordert, bescheidet er, dass er „das Vergessen-Können wohl als eine Gnade betrachtet, die dem Menschen geschenkt ist, aber die Technik des Vergessen-Wollens nicht mitmacht“. Diese Sammlung ist nicht nur ein unvergleichliches Mentalitätsbrevier der frühen Bundesrepublik, sondern auch ein Lehrbuch gegen Populismus und für Bürgerpolitik. Ein Fall für die Bundeszentrale für politische Bildung.„Hier, in Ihrer Douce France, ist mein Charakter hart geworden, Frankreich hat mich zum […] Nationalsozialisten erzogen.“ Was Friedrich Sieburg, Gott in Frankreich, 1941 vor Kollaborateuren dröhnte, zeigt, wie tief man fallen kann, wenn man Formeln nachhängt. Karl Heinz Götze, Traditionslesern des Freitag wohlbekannt, setzt hinter die Formel vom süßen Frankreich ein Fragezeichen. Mit unverbrüchlicher, deutscher Frankreichliebe und Montaigne’scher, unbestechlicher Erfahrung hat er aus wunderbaren Anekdoten, Erinnerungen, Lektüren und Reflexionen ein Buch vorgelegt, das die Differenzen im Land und zu Deutschland nicht mit Puderzucker überschneit. Er zeigt, wie die beiden Länder sich in fast allem angenähert haben, vom Essen bis zur Politik, vom Trinken bis zu den Frauen. Und wie doch gerade darin die Differenzen sichtbarer und produktiver werden. Nicht als Unüberbrückbarkeiten, sondern als wechselseitige Herausforderungen. Dieses kluge, ernst-heitere, lebens- wie leserfreundliche Buch ist unabdingbar für alle, die etwas über die Grundströmungen im Dort und Hier wissen wollen.Erhard Schütz lehrt Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität in Berlin
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