Merkels Südgrenze

Italien Salvini? Nein, danke. Da sind sich meine italienischen Freunde einig. Europa aber lasse das Land im Stich
Ausgabe 27/2019
Der Leibhaftige: Matteo Salvini
Der Leibhaftige: Matteo Salvini

Foto Andreas Solaro/AFP/Getty Images

Die Insel Ventotene, auf der ich gerade ein paar ruhige Sommertage verbringe, liegt knapp 600 Kilometer von Lampedusa, Italiens südlichster Insel, entfernt. Auf Ventotene verbannten die Faschisten ihre politischen Gegner. 1940 wurde ein „campo di concentramento“, ein Konzentrationslager errichtet, in dem die Antifaschisten in den Wintern unter der strengen Kälte litten und mancher Regimegegner verhungerte. Das 1941 verfasste Manifest von Ventotene „Für ein freies und einiges Europa“ aber kann als die Geburtsurkunde Europas gelten, weil es die Streitereien unter den Linken überwand und nach der Vermeidung künftiger Kriegsursachen fragte.

Italienische Inseln haben eine zwiespältige Position, einerseits als Orte anarchischer Freiheit, Tradition und Urlaubsvergnügen, andererseits als Verbannungsräume für die Unliebsamen, die Ausgestoßenen und Unbeugsamen. Nach dem Arabischen Frühling 2011 musste Lampedusa tausende Flüchtlinge aufnehmen, die über die Seeroute aus Afrika nach Italien gekommen waren und die der Insel vom Festland zugeteilt wurden. Die Bilder einer hoffnungslos überfüllten Insel, auf der die Menschen unter katastrophalen Bedingungen in einer Art Quarantäne verharrten, gingen um die Welt. 2013 warf Papst Franziskus werbewirksam einen Kranz ins Meer, in Gedenken an diejenigen, für die das Mittelmeer zum Grab geworden war.

Für meine italienischen Freunde ist Innenminister Matteo Salvini der Leibhaftige. Schon sein unflätiges Auftreten, seine Reden, sein sattes Grinsen, der Schmerbauch, die Faulheit und Dekadenz dieses hyperpräsenten Politstars erzeugen eine Art Brechreiz.

Andererseits: „Unsere südliche Landesgrenze liegt Afrika direkt gegenüber. Wir werden von Europa alleingelassen“, sagt meine Freundin Sara. „Es würde mich interessieren, was ‚La Merkel‘ täte, wenn ihr Land tausend Kilometer nach Süden rutschen würde.“

In Italien denkt Salvini nun über eine Justizreform nach, weil ein Richter die Freilassung aus dem Hausarrest angeordnet hat. Carola Rackete, eine jener unerschrockenen Helferinnen, die ihre Verhaftung für die Rettung schiffbrüchiger Flüchtender in Kauf genommen hatte, steht noch eine Anhörung der Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zur illegalen Migration bevor, Salvini will sie ausweisen, und sagt: „Sie wird in ihr Deutschland zurückkehren, wo sie nicht so tolerant mit einer Italienerin wären, wenn sie das Leben von deutschen Polizisten in Gefahr gebracht hätte.“

All dies, was jetzt geschieht, ist auch ein Ergebnis mangelnder europäischer Solidarität. Salvinis Wählerschaft, so scheint es, ist mit den Nerven am Ende. Nicht nur tausende Geflüchtete, auch die Humanität oder die einfachsten Moralprinzipien sind im Laufe der Zeit über Bord gegangen, das ist das Erschütternde.

Auch die Katholische Kirche hält sich bedeckt. Papst Franziskus hat nicht mehr parat als eine frommen Wunsch auf Twitter: „Gott wird uns zeigen, wie wir mit den Migranten umgehen müssen.“

Eva Sichelschmidt lebt in Rom und Berlin. Sie arbeitet als Romanautorin (Die Ruhe weg) und Kunstscout in Italien

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