„Eine klare Ansage von oben ist für Beschäftigte wichtig“
Foto: Kevin Mertens für der Freitag
Die Berichterstattung über sexuelle Gewalt und sexuelle Belästigung dreht sich oft um bekannte Namen und spektakuläre Fälle. Was aber ist mit den strukturellen Gründen, die sexuelle Belästigung entweder begünstigen oder verhindern? Sabine C. Jenner, Frauenbeauftragte an der Berliner Charité, setzt sich schon länger damit auseinander, was Beschäftigte fordern können, um sich und andere zu schützen.
der Freitag: Frau Jenner, wie erleben Sie als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte die #MeToo-Debatte?
Sabine C. Jenner: Erst mal finde ich es gut, dass das Thema, das ja noch immer ein Tabuthema ist, in der Öffentlichkeit breit diskutiert wird. In der Vergangenheit hat man es oft vermieden, sich öffentlichkeitswirksam damit zu
skutiert wird. In der Vergangenheit hat man es oft vermieden, sich öffentlichkeitswirksam damit zu beschäftigen. Manchmal auch, weil man Angst hatte, wenn wir jetzt eine klare Ansage zur Bekämpfung von sexueller Belästigung machen, dann denken manche: Es gibt bei uns ein Problem damit. Was ja gar nicht der Fall ist, das Phänomen gibt es überall, ganz egal, ob man etwas dagegen tut oder nicht.Reicht die Herstellung von Öffentlichkeit allein schon aus?Nein. Wir sollten jetzt über die Anklage hinausgehen und die Diskussion auf eine strukturelle Ebene heben. Sexuelle Belästigung ist Geschlechterdiskriminierung, also müsste man fragen, wie Letztere entsteht und was wir dagegen tun könnten. Genauso wäre es Zeit, dass man mit Handlungsanleitungen dafür sensibilisiert, was sexuelle Belästigung ist und wie ein angebrachter Umgang zwischen den Geschlechtern aussieht. Im privaten Umfeld ist das schwieriger, aber am Arbeitsplatz sollte jetzt doch klar ausgehandelt werden, was akzeptabel ist und was nicht.Ist es denn notwendig, dass man einen Katalog aufstellt, welches Verhalten als sexuelle Belästigung zu gelten hat?Das ist nicht so einfach, weil sexuelle Belästigung ja per definitionem eine subjektive Dimension hat. Es kommt nicht so sehr darauf an, was jemand sagt, sondern da-rauf, ob es beim Gegenüber als unerwünscht wahrgenommen wird. Aber natürlich könnte man grundlegende Dinge festhalten, etwa, dass es nicht angeht, dass Frauen zum Objekt gemacht werden, indem man sie auf ihre Kleidung oder auf ihre Figur reduziert. Oder dass anzügliche Bemerkungen, die Frauen als Gruppe abwerten, nicht in Ordnung sind. Oder dass es angebracht wäre, dass Dritte – auch Männer – sich einmischen, wenn sie Zeuge einer übergriffigen Bemerkung wären.Placeholder infobox-1Welche Dimension hat denn das Phänomen sexuelle Belästigung?Eine europäische Studie, die 2014 durchgeführt wurde, hat ergeben, dass zwischen 40 und 60 Prozent aller Frauen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt haben. Und eine Umfrage der Antidiskriminierungsstelle hat 2015 gezeigt, dass die Hälfte aller Befragten einen im Gesetz genannten Belästigungsfall erlebt hatte und knapp 20 Prozent der Frauen schon einmal selbst am Arbeitsplatz sexuell belästigt wurden. Viele Betroffene wissen aber auch gar nicht, dass sie Opfer von sexueller Belästigung sind. Oder sie wollen das, was ihnen passiert ist, nicht als sexuelle Belästigung bezeichnen.Nun ist sexuelle Belästigung in Deutschland nicht strafrechtlich, sondern nur arbeitsrechtlich sanktionierbar.Ja, sexuelle Belästigung ist kein Straftatbestand. Das gilt erst für die schwere sexuelle Nötigung bis hin zur Vergewaltigung. Aber: Sexuelle Belästigung in einem Arbeitsumfeld ist eine Pflichtverletzung, sie kann also arbeitsrechtliche Konsequenzen haben, je nach Schweregrad.Es gibt also einen Ermessensspielraum im Umgang damit?Sexuelle Belästigung findet meistens in einem geschlossenen Raum, in einer nicht öffentlichen Face-to-Face-Situation statt, weshalb es oft schwierig ist, sie zu sanktionieren. Deswegen ist ein transparenter und strukturierter Beschwerdeablauf wichtig, der klar geregelt ist und allen Beteiligten Schutz und Sicherheit garantiert. Das reicht von nicht förmlichen Beratungen und Begleitungen bis zur offiziellen schriftlichen Beschwerde durch die Beratende bei der zuständigen Personalabteilung. Für ein Personalgespräch mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen muss es aber fast immer Zeugen oder Zeuginnen geben, was sehr selten der Fall ist. Das heißt, es gibt verschiedene Eskalationsstufen, was so auch richtig ist. Manche Betroffenen zum Beispiel berichten von Fällen sexueller Belästigung, wollen aber nicht, dass gleich eine arbeitsrechtliche Maßnahme folgt.Passiert das öfter, dass jemand zu Ihnen kommt und sagt: Ich möchte nicht, dass es arbeitsrechtliche Konsequenzen gibt?Sicher. Oft geben sich die Betroffenen selbst die Schuld an einem Vorfall. Oder es heißt in einem Team, wenn Vorfälle problematisiert werden: Die ist aber empfindlich. Vielleicht aus Angst, weil jemand nicht hingucken möchte, oder aus mangelnder Solidarität.Könnte bei der derzeitigen, auf Hollywood und bekannte Namen fokussierten Berichterstattung nicht auch der Effekt eintreten, dass die alltägliche sexuelle Belästigung neben den spektakuläreren Fällen verblasst?Nun, auch für Graubereiche, verbale und nonverbale „kleine“ Übergriffe, muss es einen Beschwerdemechanismus geben. Viele denken, sexuelle Belästigung fängt erst bei körperlichen Übergriffen an. Aber wenn man Alltagssexismen banalisiert, gibt es die Gefahr, dass es dann zu schwerwiegenderen Grenzverletzungen kommt. Und auch „kleine“ Sexismen werden als störend empfunden, sie können die Unternehmenskultur stark negativ beeinflussen und ein stressbelastetes und entwürdigendes Lern- und Arbeitsumfeld schaffen. Nicht nur die Betroffenen leiden darunter, sondern das gesamte Betriebsklima.Auch „bloß“ verbale sexuelle Belästigung kann für die Betroffenen erhebliche gesundheitliche Auswirkungen haben.Ja, das reicht von verringerter Produktivität und Motivation bis zu allgemeiner Stress-Symptomatik, also akuten Angstzuständen, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Magen-Darm- und Herzkreislaufbeschwerden, die bei anhaltender Belastung zu chronischen Krankheitsbildern werden können. Die Symptomatik unterscheidet sich nur gering von Beschwerden, die mit akuter und chronischer Gewalterfahrung assoziiert sind. Langfristig nehmen Bindungen an das Unternehmen ab und es häufen sich Krankmeldungen bis hin zur Kündigung.Zementiert Sexismus am Arbeitsplatz die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung?Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass sexuelle Belästigung Auswirkungen auf Karriere-Entscheidungen hat, weil sich bei Frauen die fachliche Ausrichtung daran orientiert, wie frauenfreundlich und geschlechtergerecht die Arbeitskultur ist. Also gehen etwa manche Ärztinnen in die Pädiatrie, obwohl sie vielleicht gerne Chirurginnen wären, weil die chirurgischen Fächer oft männlich dominiert sind und auf der Führungsebene Rollenmodelle fehlen.Und das nehmen dann manche Männer wieder als Anzeichen dafür, dass Frauen eben nicht so tough sind und deshalb nicht in bestimmten Feldern arbeiten?In manchen Bereichen gibt es noch immer ein Arbeitsethos, das geschlechtsstereotype Züge hat, etwa dass die spezifische Tätigkeit so „schwer“ ist, dass man da „richtig rangehen“ und richtig „tief bohren“ können muss. Das heißt, dass die Kommunikation ein- bis zweideutig ist und als Ausschlussmechanismus funktioniert.Nun würde ein Unfallchirurg vielleicht sagen, dass sein Job nur was für toughe Kerle ist.Ja, aber das sagen die Unfallchirurginnen ja auch! Man darf nicht zimperlich sein, man steht manchmal extrem nah im Körperkontakt, und so weiter. Das gilt genauso für männliche wie weibliche Unfallchirurgen. Allerdings beobachte ich, dass immer mehr Frauen in vormals männerdominierte Bereiche wie die Unfallchirurgie und Orthopädie kommen, was ein Beleg dafür sein kann, dass sich, im Vergleich zu vor zehn Jahren, etwas zum Besseren ändert. Es wagen sich da mehr Frauen rein, das sind – auch im Jahr 2018 – gewissermaßen Pionierinnen.Was wären denn – außer den von Ihnen untersuchten Betriebsvereinbarungen gegen sexuelle Belästigung – noch andere Instrumente zur Prävention?Es ist für Beschäftigte wichtig, dass vom Vorstand oder von der Geschäftsleitung eine klare Ansage kommt, sexuelle Belästigung nicht zu tolerieren. Dass es einen Beschwerdemechanismus gibt, der dann auch prominent in den Unternehmensmedien platziert wird. Wichtig ist, dass das niedrigschwellig ist und auch anonyme Beschwerden möglich sind, auch wenn anonyme Beschwerden nur bedingt eine Änderung und Abklärung herbeiführen können. Natürlich hilft auch Transparenz, dass also offen gesagt wird, wie viele Fälle es gibt. Auf der Organisationsebene können flachere Unternehmenshierarchien und eine gleichberechtigte Zusammensetzung der Gremien bis hin zur Führungsebene wichtige Präventionsinstrumente sein.Wie hat sexuelle Belästigung mit Hierarchie zu tun?Ich denke schon, dass starke Hierarchien, überhaupt wenn die Konkurrenz groß ist, sexuelle Belästigung eher begünstigen. Etwa wenn dann sexuelle Belästigung quasi als Platzverweis eingesetzt wird.Sind also nicht vor allem flachere Hierarchien notwendig?Sicher. Vor allem, weil Hierarchien ja tatsächlich männlich geprägte Hierarchien sind. In Deutschland gibt es an Unikliniken bei den Professuren nur rund 20 Prozent Frauen auf der Führungsebene, hier in Berlin sind es 24 Prozent Frauen, die dort sitzen, wo gestaltet und gelenkt wird.Wäre die beste Prävention nicht eine Änderung der Unternehmenskultur?Ja. Wir ermutigen die Frauen, vor allem die jungen, unerfahreneren, sich zu trauen, zu sagen: Halt, stopp, das möchte ich nicht.
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