„ ... und dann kommt gleich Getränke Hoffmann. Sag Bescheid, wenn du mich liebst.“
Foto: Steinach/Imago
Es gibt seltsame Städtenamen. Einer ist Delmenhorst. Man könnte sich einen bestimmten Typ Mann darunter vorstellen. Einen Angler vielleicht. Einen, der seine Stipprute ins Wasser hält und schon im Voraus weiß, dass höchstens eine Plastiktüte anbeißen wird. Manche bringen Delmenhorst mit dem Chansonnier Tim Fischer in Verbindung, andere mit dem Pathos-Pop von Sarah Connor. Beide sind in Delmenhorst geboren – beide sind von dort weggezogen, nach Berlin. Sven Regener hat der Stadt mit seiner Band Element of Crime einen Song gewidmet, darin heißt es: „Ich bin jetzt immer da, wo du nicht bist. Und das ist immer Delmenhorst.“
Jetzt ist Delmenhorst aber nicht mehr nur gerüchtehalber als Zentrum der „toten Hose“ bekannt. Sei
kannt. Seit Ende Oktober ist es auch offiziell: Im Ranking der unbeliebtesten Ausflugsziele Deutschlands nimmt es einen vorderen Platz ein. Außer in Pirmasens und Zweibrücken wurden zuletzt nirgends so wenige Hotelübernachtungen gezählt wie in Delmenhorst, meldeten die Statistiker der Regionaldatenbank. „Da will niemand hin“, lautete eine besonders brutale Presseschlagzeile dazu. Aber: Warum eigentlich nicht?Thermalbad und Jute-CenterImmerhin fahren viele Bremer im Sommer über die Landesgrenze nach Niedersachsen – eben nach Delmenhorst. Wegen des dortigen Thermalbads. Im Gegensatz zu so manchem Bremer Solarfreibad wird die Delmenhorster Graft-Therme beheizt. Sehr schlau, denke ich, auch in Delmenhorst dürfte die Sonne eher selten scheinen, genauso wie in der 15 Kilometer entfernten Hansestadt.Ich will mir dieses Delmenhorst nun auch mal ansehen. Am Bremer Hauptbahnhof steige ich in den Zug. Der Nebel hat den Norden fest im Griff, verschluckt Flüsse, Wiesen, Straßen und Häuser. Kurz bevor ich aussteige, lichtet es sich plötzlich – Delmenhorst strahlt mich an. „Der Horst von der Stadt ersetzt den Chauffeur“: Breit prangt die Werbung der Delbus, des regionalen Verkehrsunternehmens, über der Bahnsteigtreppe.Schwarze Klamotten, Wollmütze, Stöpsel in den Ohren: Sofort komme ich mit einem Anwohner ins Gespräch. Goran heißt er, Sohn mazedonischer Gastarbeiter aus den 70ern ist er, außerdem ehemaliger Rapper. Die Delmenhorster lächelten selten, sagt Goran, „weil das Leben hier hartes Brot ist“. Zum Beweis seiner These empfiehlt er mir das Jute-Center nebenan. Jute, Kork, Linoleum waren mal die wichtigsten Industrieprodukte der einstigen Boomtown Delmenhorst. Im Jute-Center, einem Einkaufszentrum, geht es heute eher trostlos zu: ein Drogeriemarkt, eine Bäckerei, ein paar Bekleidungsketten. Die meisten Läden stehen leer. Aus einem grinst mir, etwas gespenstisch, ein Halloween-Skelett entgegen.Geht man am Rathaus vorbei, landet man, links von den Wallanlagen, jedoch zügig in exquisiterer Lage: behaglich wirkende Villen, große Gärten, elegante Restaurants und Automarken. Ein überraschendes Wohlstandsidyll in der heimlichen Hauptstadt der Billigmieten. Ich flaniere zurück zum Rathausplatz, neben dem die Delme plätschert, und betrachte die makellosen Putzfassaden der alten Bürgerhäuser gegenüber. „Nur an Markttagen ist es hier lebendig. Ansonsten herrscht in der Stadt Totentanz“, sagt ein freundlicher älterer Herr mit hellblauen Augen. Viele Betriebe haben längst geschlossen, die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent. Der Mann erzählt, er habe früher in einer Bremer Werft gearbeitet, die irgendwann in Konkurs ging.Das Erbe der WollmäuseDie Fußgängerzone ist geteilt: In der besseren Hälfte finden sich Qualitätsgeschäfte in renovierten Altbauten, ein nettes Café, Plakate werben für ein Benefizkonzert mit – logisch – Tim Fischer und für das Delmenhorster Jazzfest. In der anderen Richtung dominiert Gewerbe-Leerstand. Und der skurrile Waschbetonbau eines Kaufhauses, das mal Hertie, mal Karstadt war: ein fensterloser Klotz, in dessen Ergeschoss der Imbiss „Kismet“ auch schon wieder seine Pforten geschlossen hat. Goran, mein erster Delmenhorster Echtzeitkontakt, hatte mir empfohlen, überall ganz genau hinzuschauen. Ich sehe Gardinen und lila Veilchen auf Fensterbänken. Und den Slip im Logo eines Damenwäschegeschäfts.In Kleinbuchstaben steht „alles nicht sichtbare“ auf der Remise des frisch renovierten Haus Coburg, der Städtischen Galerie in der Fischstraße. Nur ein paar Schritte davon entfernt warten die ersten „Wollepark“-Hochhäuser auf Abriss: dunkle Fassaden mit zerbrochenen Fensterscheiben und ehemals weißen Balkonen, auf denen der Grünspan seine Spuren hinterlassen hat. Die im Schatten liegenden Blöcke dahinter sind saniert. Auf dem Boden türmt sich Vergessenes: alte Matratzen, Sessel und Sofas, aus denen die Polsterung quillt. Von Balkonen und Fenstern hängen bunte Teppiche und Wäsche herab. Bevor sie mit Mann und Kind in einem Hauseingang verschwindet, frage ich eine Frau, wo es zur „Nordwolle“ gehe. „Do you speak English?“, fragt sie zurück.1894 gegründet, beschäftigte die Wollkämmerei und Spinnerei in ihrer Spitzenzeit in den 20er Jahren 4.500 Menschen, las ich. Bis 1981 arbeiteten hier noch die sogenannten „Wollmäuse“. Laub raschelt unter meinen Füßen, als ich durch eine Reihenhaussiedlung zum Ex-Industriegelände gehe. Als Reminiszenz an die Architektur der Produktionshallen hat man den Wohnhäusern Sheddächer, auch „Sägezahndächer“ genannt, verpasst. Buchenhecken, Buchsbäume. Und dann: die imposanten Backsteingebäude eines der größten Industriedenkmäler Europas samt Museum. Im ehemaligen Wollelager und in seinem Turm befindet sich heute das Jobcenter.Als ich mich langsam wieder in Richtung Bahnhof bewege, komme ich an der zugenagelten Diskothek „Miami“ vorbei. Ich steige in den Zug. Auch ich habe nicht in Delmenhorst übernachtet.Placeholder authorbio-1
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