FREITAG: Bedeutet Dir der 70. Geburtstag etwas?
HELKE SANDER: Ich verstehe nicht wirklich, dass ich das sein soll, weil ich diese Zahl so hoch finde. Offenbar kommt man sich selbst viel jünger und unreifer vor und verbindet sich nicht mit diesem hohem Alter. Früher waren Leute in diesem Alter für mich uralt. Jetzt bin ich das selber, das begreife ich - noch - nicht.
Wenn jemand überhaupt nicht weiß, wer Helke Sander ist, wie würdest Du Deine Arbeit beschreiben? Gibt es einen inneren Zusammenhang, bestimmte Dinge, die Du herausfinden wolltest?
Wenn man sich eine Kette denkt, dann fehlen einige Perlen. Ich habe immer wieder Dinge, die ich machen wollte, nicht finanziert bekommen. Was sich durchzieht, hat mit Gewalt zu tun. Hört sich vielleicht merkwürdig an. Wo Gewaltverhältnisse anfangen, das interessiert mich. Was alles umschlagen kann in Gewaltverhältnisse, wie sie entstehen, in welcher Nähe.
Was meinst Du mit nah?
Privat. Es hängt vom subjektiven Faktor ab, wie Menschen mit äußerer oder innerer Gewalt umgehen.
Also weniger die militärische, imperiale, religiöse Gewalt, wie wir sie aktuell erfahren?
Wie persönlich erfahrene Gewalt sich in der allgemeinen und politischen ausdrückt, diese Umschlagpunkte interessieren mich. Beim Subjektiven Faktor hat mich interessiert, wie so eine lebendige Bewegung wie die Studentenbewegung plötzlich ins Dogmatische und Versimpelte umschlägt. Das hat viel mit den einzelnen Personen zu tun. Wer bekommt plötzlich Angst? Welche Gedankenfaulheit setzt ein, wenn man merkt, dass man mit viel Phantasie etwas losgetreten hat, das man nicht bewältigen kann. Es ist eben nicht einfach, dass es übermorgen die Revolution geben soll, dass wir alle gleich sind, dass alle Menschen friedlich sind. Es ist viel komplizierter und wirkt sich unterschiedlich aus. Das beschäftigt mich auch in Mitten im Malestream und in Muttertier, den kleinen Filmen.
Was denkst du: Welcher Deiner Filme wird in zehn Jahren noch wichtig sein?
Immer wenn ich eine Retrospektive hatte, dann haben mir die Zuschauer gesagt, dass meine Filme wenig veraltet sind. Das freut mich. Im Grunde kann man sich alle noch ganz gut anschauen. Sie entwickeln andere Qualitäten, zum Beispiel wirkt Redupers im Lauf der Zeit immer dokumentarischer. Das haben sowieso alle Spielfilme an sich. Wenn man welche aus den fünfziger Jahren sieht, wie Leute am Frühstück sitzen oder aus dem Flugzeug steigen und einfach übers Flugfeld gehen, das finde ich unglaublich interessant. Darüber gucke ich mir alte Filme gerne an. Auf einer anderen Ebene ist das bei meinen Filmen auch so.
Heute denken viele, wenn sie Deinen Namen hören, als erstes an den Film "Befreier und Befreite", Deine Dokumentation über Massenvergewaltigungen im und nach dem zweiten Weltkrieg, vor allem durch sowjetische Soldaten.
Es gab viel Wirbel um diesen Film, vor allem in den USA. Zum Teil waren die Angriffe ziemlich traumatisch für mich. Da bleibt etwas hängen, als Gerücht. Der Film lief hier sehr gut zwei Jahre lang im Kino. Plötzlich galt er als umstritten. Der Generalvorwurf war, ich sei revisionistisch, antisemitisch, was noch? ... Binär feministisch, vor allem antisemitisch. Es war relativ irrational, aber die Vorwürfe haben auch Historiker auf den Plan gerufen. Ich glaube, sie waren sauer, dass sie selbst nicht auf das Thema gekommen waren.
Worin bestand Deine Provokation?
Dass eine Filmemacherin ein paar Frauen vor die Kamera holt, die vergewaltigt worden waren, galt nicht als das Problem. Aber meine Fragestellung war ja: Wie viele waren es? Vielleicht ja gar nicht so viele. Tausend wären auch viel, und das wäre furchtbar für die betroffenen Frauen. Aber tausend Frauen hätten nicht diese Auswirkungen in der Geschichte verursacht. Mich hat interessiert, was wirklich passiert ist, um wie viele Frauen es sich gehandelt hat. Worauf fußen die Nachkriegserzählungen eigentlich? Ich bin lange davon ausgegangen, dass die Ereignisse im Kalten Krieg aufgebauscht und propagandistisch ausgeschlachtet worden waren. Daraus ergab sich die schwierige Arbeit der Recherche. Es gab Arbeiten dazu, Tagebücher, viele Texte. Aber niemand hatte davor herauszufinden versucht, in welchem Ausmaß die Vergewaltigungen stattgefunden hatten. Wenn es tatsächlich viele waren, dann müsste man die Auswirkungen sehen, zum Beispiel auf die ersten Berliner Wahlen. An denen waren hauptsächlich Frauen beteiligt. Sie haben entgegen aller Voraussagen nicht die Kommunisten gewählt sondern die SPD. Ich bin in den Archiven, Bezirksämtern, Gesundheitsämtern und Krankenhäusern herumgekrochen und habe versucht zusammenzutragen, was es dazu gab. Darauf beruhen alle Zahlen, die es jetzt dazu gibt.
Sind die Arbeit von "medico mondial" oder auch Jasmila Zbanics Film "Grbavica" eine Auswirkung Deiner Arbeit?
Mein Film fängt damit an, dass in Jugoslawien gerade aktuell geschieht, was damals passiert war. Das war 1991 zur Zeit des serbisch-kroatischen Krieges. Ich wusste davon, weil ich sehr viel über die Vorgänge hier wusste und mir manches zusammenreimen konnte. Ich habe dann eine kleine Reportage für Alexander Kluges Fernsehprogramm über die Vergewaltigungs-Lager gemacht. Weil dieser Krieg herrschte, war die Aufmerksamkeit für meinen Film verhältnismäßig groß. Deshalb lief der Film auch so lange im Kino.
Hat der Film in die Wirklichkeit zurückgewirkt?
Ja, das denke ich.
Als wir uns bei "Frauen und Film" in den 70er Jahren kennen lernten, ging es auch bereits um diese Verbindung zwischen Film und Wirklichkeit, zwischen Ästhetik und Produktion. Ist etwas davon verwirklicht worden?
Ich glaube, dass Frauen und Film damals wichtig war. Abgesehen davon, dass viele Frauenbuchläden uns nicht verkauft haben, weil wir im "Männerverlag" Rotbuch erschienen, gab es genügend Frauen, die in vielen Städten Seminare mit Filmen von Frauen gemacht haben, die wir besprochen haben. Das war in der damaligen Bundesrepublik viel intensiver, als in irgendeinem anderen Land. Und es gab einen Frauenfilmverleih "Chaos", der hat sich leider wirtschaftlich nicht getragen. In einem Kino am Bundesplatz gab es jeden Sonntag Matineen mit Filmen von Frauen. In jedem Kommunalen Kino gab es Einen, meist Eine, die das in die Hand genommen hat.
Bestand der Erfolg also in einem besseren Networking?
Sagen wir, wir haben uns einfach verständigt. Heute kommt mir Networking wichtigtuerisch vor für etwas, was auf der Hand liegt. Die Zeitschrift hat viele Frauen auch dazu ermutigt, dass sie sich an den Filmakademien beworben haben. Wir haben für die Wahrnehmung der Unterschiede in der Herangehensweise ans Filmemachen plädiert, nicht für eine Ausgrenzung von Männern. Anfangs hat man uns nicht ernst genommen. Dass Frauen und Film eine Umkehrung des Titels der alten Publikumszeitschrift Film und Frau war, hat eigentlich niemand begriffen.
Du bist Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg geworden. Ging die Netzwerkarbeit da weiter?
Ich habe die Berufung der Frauenbewegung zu verdanken, weil es an jeder Hochschule auch Frauengruppen gab. Die wollten für Film eine Frau haben. Sie haben gewonnen. Ich wollte nie Professorin werden. Ich wollte Filme machen und davon leben. Das war ein großer Konflikt. Von Frauen und Film konnten wir nicht leben. Dieser Konflikt kommt häufig vor, dass man mehrere Dinge zugleich tun soll, die nichts miteinander zu tun haben. Die Arbeit mit den Studenten gefiel mir, das waren konkrete Auseinandersetzungen. Aber die vielen Lebensstunden, die ich Gremien verbracht habe, tun mir leid.
Man sagt ja über den Neuen Deutschen Film, dass aus den Regisseuren nichts geworden sei außer Professoren.
Finde ich nicht. Ich kann nur sagen, ich hatte prima Studenten. Ich hatte nie tolle Kassenhits auf einmal, aber meine Filme laufen immer wieder, heute auch. Das kann auch nicht jeder von sich sagen.
Das Gespräch führte Claudia Lenssen
Helke Sander,
geboren am 31. Januar 1937 in Berlin, ist die Autorin und Regisseurin von Filmen wie Redupers - Die allseitig reduzierte Persönlichkeit (1977), Der subjektive Faktor (1981), Der Beginn aller Schrecken ist Liebe (1983) und BeFreier und Befreite (1992). Politisches Engagement, eigensinniges Nachdenken über die Bedingungen weiblicher Kreativität, polemische Kritik an der gesellschaftlich sanktionierten Arbeitsteilung der Geschlechter in Sachen Kindererziehung, Kreativität und Karriere, nicht zuletzt die Untersuchung tabuisierter sexueller Gewalt zeichnen ihre Filme und ihr publizistisches Werk aus. Dass Politik und Kultur einer Gesellschaft daran zu messen sind, welche Chancen Mütter und Kinder in ihr haben, beschäftigte sie zuletzt auch in dem Filmessay Mitten im Malestream, einer kritischen Suche nach den Spuren der westdeutschen Frauenbewegung. 1968 als Delegierte des "Aktionsrates zur Befreiung der Frauen" vor dem SDS und dem legendären Tomatenwurf einer solidarischen Zuhörerin auf hämische Genossen bekannt geworden, setzte sie ihre zwischen Polarisierung und Vernetzung pendelnden Initiativen in der von ihr gegründeten Zeitschrift Frauen und Film fort, die sie bis 1982 herausgab.
Zur Debatte um "BeFreier und Befreite"
Der Film ist eine dokumentarische Recherche nach den Daten, Gründen und Folgen der Massenvergewaltigungen vornehmlich sowjetischer Soldaten am Ende des zweiten Weltkrieges. Helke Sander löste damit eine scharfe Kontroverse über revisionistische, das heißt die deutsche Kriegsschuld relativierende Tendenzen im dem Film zu Grunde liegenden feministischen Geschichtsbild aus. Sowohl im Film als auch dem gleichnamigen Buch nennen Helke Sander und ihre Ko-Rechercheurin Barbara Johr folgende Zahlen: 1945 kämpften über 450.000 Soldaten der Roten Armee in Berlin, während 1,4 Millionen Mädchen und Frauen in der Stadt lebten. Zwischen Frühsommer und Herbst 1945 wurden mindestens 110.000 von ihnen von Rotarmisten vergewaltigt. Von den betroffenen Frauen im gebärfähigen Alter wurden 11.000 schwanger. Die Zahl der Vergewaltigungen geht darüber weit hinaus, da über 40 Prozent mehrfach vergewaltigt wurden.
Neben zahlreichen Erlebnisschilderungen betroffener Frauen dokumentiert der Film auch Archivmaterial zu den Maßnahmen der jeweiligen Heeresleitungen. So referieren die Autorinnen unter anderem, dass Bedenken der Deutschen zur Gefährdung der "Manneszucht", vor allem die Furcht vor Homosexualität und einer epidemischen Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten, im Verlaufe des Krieges in den besetzten Ländern zur Einrichtung von etwa 500 Wehrmachtsbordellen mit einheimischen Frauen führten.
Ein zentraler Kritikpunkt (siehe Gertrud Koch und Anita Grossmann in Frauen und Film, Heft 54/55, 1994) ist der Vorwurf, Helke Sander setze die vergewaltigten Frauen mit den Kriegs- und Holocaust-Opfer gleich, unterziehe das benutzte Nazi-Propagandamaterial keiner expliziten ideologiekritischen Analyse und konstruiere so ahistorisch die Denkfigur des "ewigen" Vergewaltigers Mann gegen das "ewige" Opfer Frau.
Weitere Hinweise auf die internationale Debatte unter www.helke-sander.de. DVDs ihrer Filme sind erhältlich bei www.neuevisionen.de.
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