Michael Gorbatschow hatte in Moskau keinen Rückhalt
Außenseiter Nach dem Tod des letzten Präsidenten der Sowjetunion gab es Elogen zuhauf. Doch wirklich populär war Michail Gorbatschow außerhalb von Künstler- und Intellektuellenkreisen in seinem Land nicht einen Tag
Michail Gorbatschow (1931 – 2022), für ein halbes Dutzend Jahre ein Romantiker auf dem Thron in Moskau
Foto: Shone/Gamma-Rapho/Getty Images
Woher kam dieser Verzicht auf jede Stärkedemonstration, das Vertrauen in die Vernunft seines Gegenübers? Auch aus einem romantischen Impuls, der in Traum und Albtraum mehr Realität erblickt als in jener Wirklichkeit, in der Politik ihre immer gleichen Machtspiele spielt? Michail Gorbatschow lebte den Traum eines Außenseiters, der sich einerseits bevorzugt und andererseits nie richtig dazugehörig weiß. Er besaß den seltenen Mut zur Schwäche, beherrschte die Kunst der Defensive.
Er wuchs in der südrussischen Region Stawropol auf, beide Großväter wurden in den 1930er-Jahren von der Geheimpolizei verhaftet und überlebten nur mit Glück, während der Großvater von Raissa Gorbatschowa als „Volksfeind“ erschossen
rschossen wurde. Soviel Lügen und Verbrechen hinter der fortschrittlichen Fassade! Als 1941 die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, war der Junge zehn Jahre alt. Dann kam die Nachricht vom Tod des Vaters an der Front, die sich glücklicherweise als Irrtum herausstellte. Entstand so jener Vorbehalt gegen das Faktische, dem er fortan nie mehr ganz glaubte? Hoffte er eher noch auf Wunder?Weißer RabeIn seinen Erinnerungen wird Gorbatschow 1995 schreiben: „Schade, dass meine Generation in geistiger Hinsicht so sehr benachteiligt wurde, dass sie auf eine so karge Ration angewiesen war, nichts als lauter Ideologie!“ Diese Aversion gegen alles Ideologische war es, die für meine Generation Ost, die Mitte der 1980er studierte, Gorbatschow so anziehend machte. Da glaubte einer – genauso wenig wie wir – an die Parolen von der „Diktatur des Proletariats“ unter Führung einer allwissenden Partei. Und stand doch seit 1985 selbst an der Spitze der Machtpyramide, wohin er wohl nur gelangt war, weil seit 1982 kurz hintereinander drei Generalsekretäre gestorben waren. Gorbatschow war mit Mitte 50 das jüngste Politbüromitglied.Nach Moskau kam er 1978 aus Stawropol, ein Außenseiter im Machtapparat, der notiert: „Vom ersten Tag an war jetzt das Gefühl der Einsamkeit da.“ Nur mit seiner Frau Raissa wagt er noch offene Gespräche, nachts im Garten. Den Funktionären ist er suspekt, ein weißer Rabe unter lauter schwarzen. Diese glauben einen nützlichen Idioten gefunden zu haben, den sie schließlich vom Landwirtschaftssekretär zum Generalsekretär machen. Für den Westen scheint er gerade gut genug: kann überzeugend reden, ist gebildet, hat Manieren – doch gegen die Intrigen im Kreml scheint er wehrlos. Er bildet nie einen geschlossenen Machtklüngel, sucht statt dessen das offene Gespräch mit allen. Da setzt jemand beharrlich auf die Überzeugungskraft guter Argumente!In der DDR sind viele sofort euphorisiert, zumal das SED-Politbüro in den 1980er-Jahren nur noch formelhaft in althergebrachten Ritualen agiert. Vom Pfarrer, Friedens- und Umweltaktivisten bis zu unzufriedenen SED-Mitgliedern wird Gorbatschow zum Hoffnungsträger – desto stärker, je mehr die SED-Führung ihn ablehnt. Mit Gorbatschow kommt ein neuer Geist, der gegen die bis eben herrschende Politik steht, die er zu ändern verspricht. Ein neuer Stil, eine andere Atmosphäre soll in der Gesellschaft Einzug halten. Das Ehepaar Gorbatschow sucht die Nähe zu Künstlern und Intellektuellen. Tschingis Aitmatow, Daniil Granin oder Michail Schatrow gehörten zum Umkreis, ebenso Filmemacher wie Elem Klimow oder Tengis Abuladse, dessen verbotener Film Die Reue den Gorbatschows von Außenminister Eduard Schewardnadse nahegebracht wird. Gorbatschow selbst setzt sich für Anatoli Rybakows Roman Die Kinder vom Arbat ein. Der Schrecken der Stalinzeit wird darin gegenwärtig, den Wladimir Putin heute wieder vergessen machen will.In der Sowjetunion interessiert das aber nur wenige, denn es herrscht im Volk ein heftiger Unmut: Gorbatschows Kampf gegen den Alkohol! Der hatte auch private Gründe, denn Raissas Bruder, ein begabter Kinderbuchautor, war an seiner Trunksucht gestorben. Noch in den schlimmsten Zeiten hatten wir Wodka und vielleicht sogar Kaviar – und nun nur noch gute Worte! – spricht das Volk. Nein, populär ist Gorbatschow außerhalb von Künstler- und Intellektuellenkreisen in der Sowjetunion nicht einen Tag. Er ist eine Zumutung, die man ablehnt. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986, die aus kollektiver Verantwortungslosigkeit resultierte, wird Gorbatschow klar, dass das System viel grundlegender reformiert werden muss, als er anfangs dachte. Nach 70 Jahren Sozialismus stalinistischer Prägung hört kaum mehr jemand die Stimme des Gewissens. Der Werteverfall ist zu weit fortgeschritten, um eine alte Idee noch mit neuem Leben zu erfüllen.Er bleibt ein einsamer Prophet des Wandels durch Katharsis. Es ist, als habe er es mit jenen Mankurts aus Aitmatows Roman Der Tag zieht den Jahrhundertweg zu tun, willfährigen Sklaven, denen man durch Folter das Gedächtnis geraubt hat. Die nun Gut und Böse nicht mehr unterscheiden können. Die Verbrechen des Stalinismus lassen sie kalt.Dafür aber wirkt er auf die Ostdeutschen fast wie ein Messias. Sogar der zynische Heiner Müller ist von Gorbatschow fasziniert und notiert über diesen Visionär eines „Europäischen Hauses“, er habe mit Gorbatschows weltpolitischem Auftritt zum letzten Mal das „Flügelschlagen des Engels der Geschichte“ vernommen. Christoph Hein kann 1987 seine öffentliche Rede gegen die Zensur nur halten mit Gorbatschows „Neuem Denken“ im Rücken. Plötzlich gehören ideologische Knüppel wie Revisionismus, Reformismus, Eurokommunismus oder Titoismus in die ideologische Rumpelkammer. Man kann nun über Sozialismustheorie streiten, ohne sofort als Abweichler abgestempelt zu werden. Nikolai Bucharin etwa – Lenins „Liebling der Partei“, geistiger Vater der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) der frühen 1920er-Jahre, den Stalin als „rechten Abweichler“ hinrichten ließ – wird in Moskau rehabilitiert und ersteht im Forschungsprojekt „Demokratischer Sozialismus“ von André und Michael Brie, Rainer Land und Dieter Segert an der Berliner Humboldt-Universität wieder auf. Gemischte Eigentumsformen als ökonomische Basis eines demokratischen Sozialismus! Entscheidend wird mit Gorbatschows Perestroika das Verschwinden von Tabus, die Wiederkehr einer Utopie von Sozialismus als Fülle bislang ungedachter Möglichkeiten. Sein Deutschlandbild, sagt er, sei geprägt worden durch Christa Wolfs Der geteilte Himmel. Auch nach seiner Entmachtung kommt er häufig ins wiedervereinigte Deutschland, trifft nun auch Heiner Müller, der 1993 in Bayreuth Tristan und Isolde inszeniert. Seinetwegen fährt Gorbatschow dorthin. Der Publizist Michael Gaißmayer, der ihn bei diesem Deutschlandbesuch begleitet, erinnert sich an eine Szene, die typisch für die Geistesferne bundesdeutscher Politik ist. Als der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber Gorbatschow begrüßt, ist er irritiert über den schmächtigen Mann mit der mächtigen Brille an dessen Seite. Er kennt ihn nicht: „Sprechen Sie Deutsch?“, fragt er Heiner Müller ratlos.Lermontows DichtungIn dem berührend persönlichen Gorbatschow-Filmporträt von Werner Herzog spricht dieser 2018 zum Schluss ein Gedicht von Michail Lermontow in die Kamera, das zeigt, wie sehr da einer immer aus und mit der Dichtung lebte: „Nichts hab ich vom Leben zu verlangen / und Vergangenes bereu ich nicht: / Freiheit soll und Friede mich umfangen / Im Vergessen, das der Schlaf umfasst.“ Dies ist nicht das Vergessen der Mankurts, von dem Aitmatow schrieb, es ist das Vergessen von einem, der sich nach langer irrtumsreicher Wegsuche endlich zur Ruhe legt. Lermontows Ein Held unserer Zeit nennt Gorbatschow in den Erinnerungen sein Lieblingsbuch. Unzeitgemäßer als dort kann ein Held nicht sein, ein ewiger Don Quichotte, mit den Windmühlenflügeln der Vergeblichkeit kämpfend – und doch beharrlich seinem Traum folgend. Lermontows Buch gipfelt in dem Satz: „Sein Ziel ist es, der Held eines Romans zu werden. Er hat sich so oft bemüht, andere davon zu überzeugen ... dass er es nun selber fast glaubt.“Gorbatschow: Für ein halbes Dutzend Jahre ein Romantiker auf dem Thron in Moskau, einsamer Träumer von so tiefem Realismus, dass nicht die Realisierung dieser Träume sein vorrangiges Ziel sein konnte, sondern ihre Bewahrung für künftige Zeiten.Placeholder authorbio-1
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