Damit ein Mindestlohn armutsfest ist, muss er mindestens 12,63 Euro betragen. Das berechnete der Paritätische Gesamtverband bereits 2008. Derzeit beträgt er 9,35 Euro – und nun vereinbarte die deutsche Mindestlohnkommission, ihn schrittweise auf 10,45 Euro im Jahre 2022 anzuheben. Ob dieser Mindestlohn existenzsichernd sein wird, bleibt fraglich – und hängt nicht zuletzt von den Lebenskosten ab, die regional stark differieren können. Darauf verwies auch der ehemalige Wirtschaftsweise Peter Bofinger im Journal für Internationale Politik und Gesellschaft. Sein Vorschlag: den einheitlichen Mindestlohn „durch höhere, regional differenzierte Mindestsätze zu ergänzen“. In den USA etwa gibt es einen einheitlichen Mindestlohn, der dur
ohn, der durch Mindestlöhne in Bundesstaaten und teils zusätzlich auf kommunaler Ebene ergänzt wird.Der Vorschlag erinnert an das Schema, das vom Arbeitslosengeld II bekannt ist: Dort gibt es einen bundesweit einheitlichen Regelsatz, der durch regionale Kosten der Unterbringung und Heizung ergänzt wird. Diese schwanken laut einer Übersicht von Johannes Steffens von 2013 zwischen 328 Euro in Thüringen und 481 Euro in Hamburg, aber auch innerhalb eines Bundeslandes. Hinter den durchschnittlich 425 Euro in Niedersachsen etwa verbarg sich eine regionale Streuung zwischen 345 Euro (Holzminden) und 500 Euro (Harburg).Insofern spricht also viel für Bofingers Vorschlag, auch beim Mindestlohn regional zu differenzieren. Allerdings stellen sich dazu mehrere Probleme. Dem Anspruch der Bedarfsgerechtigkeit steht entgegen, wie die Ermittlung der zugrunde liegenden Basisgrößen in der Praxis umgesetzt wird. 2010 stufte das Bundesverfassungsgericht die Regelsätze als in Teilen verfassungswidrig ein. Nun möchte die Bundesregierung den Regelsatz ab 2021 um sieben Euro auf 439 Euro steigen lassen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband, der von einem bedarfsgerechten Regelsatz von über 600 Euro pro Monat ausgeht, kommentiert das als „unverschämtes Kleinrechnen“ und „Missbrauch“ von Statistik. Auch die Diakonie kritisiert die geringe Höhe und hält die Neuberechnung für „in vielen Fällen nicht sachgerecht, oft unrealistisch und insgesamt methodisch falsch“.Wo bleibt die faire Teilhabe?Solche Probleme umgeht die Regierung nur scheinbar damit, dass sie den Mindestlohn in einer paritätisch aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden besetzten Kommission vereinbaren lässt. Wenn es beim Mindestlohn um eine Bedarfsermittlung geht, wozu dann ein Kompromiss zwischen zwei Interessengruppen? Allerdings „könnte man diese Kommission auch durch eine Excel-Tabelle ersetzen“, kommentierte der Sozialwissenschaftler Stefan Sell das technische Prozedere dort: „Man müsste einfach die Werte eingeben und gut ist.“Doch das Problem liegt tiefer: Laut Mindestlohngesetz prüft die Kommission, „welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden“. Sie soll sich dabei nachlaufend an der Tarifentwicklung orientieren. Was ist aber mit einem „angemessenen Mindestschutz“ gemeint? Die Garantie eines soziokulturellen Existenzminimums, Lebenshaltung oder Menschenwürde? So genau wird das nicht klar, es bleibt also schwammig, ob und wie das in der Mindestlohnkommission berücksichtigt wird.Keine Rolle spielt zudem, dass der Mindestlohn neben der Existenzsicherung für eine faire (Mindest-) Teilhabe an der realen Wertschöpfung und die Kompensation für Einschränkungen durch ein Arbeitsverhältnis sorgen könnte. Mehr noch: Wer die Höhe des Mindestlohns – wie im Gesetz – auch an die Beschäftigungseffekte koppelt, unterminiert damit die Mindestlohn-Funktion der Existenzsicherung. Denn dann steht die Angemessenheit der Höhe des Mindestlohns, und damit das Existenzminimum, zur Disposition.Die Diskussionen um den Mindestlohn drehen sich eher um Beschäftigungseffekte als um die Existenzsicherung. In dieser Kontruktion liegt ein marktfundamentalistischer Coup, denn uns wird mit dem „Mindestlohn“ etwas verkauft, das den Namen eigentlich nicht verdient, sondern eher eine gesetzlich festgelegte allgemeine Lohnuntergrenze darstellt. Es darf also nicht verwundern, wenn die derzeitigen Regelungen nicht zu einem armutsfesten und bedarfsgerechten Lohn führen.Andere Probleme ergeben sich bei der Umsetzung. So ergab eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dass im Jahr 2017 je nach Szenario zwischen 1,3 bis 2,4 Millionen Arbeitende unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns bezahlt wurden. Das wird häufig durch nicht abgegoltene Überstunden ermöglicht und fachlich als nicht vereinbarte Stundenlöhne bezeichnet.Entsprechend regen die Studienautorinnen eine Intensivierung der Überprüfungen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Bundeszollverwaltung an. Ein weiterer Vorschlag sieht ein „Fair Pay“-Zertifikat vor, das Verbraucherinnen anzeigt, welche Unternehmen Mindestlöhne zahlen. Zudem können Kommunen, Länder, Bund und andere sich selbst zur Zahlung von Mindestlöhnen verpflichten. Thüringen etwa hat 2019 in seinem Vergabegesetz festgeschrieben, dass öffentliche Aufträge nur dann vergeben werden, wenn ein Mindestlohn von 11,42 Euro sichergestellt ist. Doch wer den Mindestlohn wirklich im Sinne der Geringverdienenden ändern will, sollte dessen konkrete Ziele in das Mindestlohngesetz schreiben. Auch eine Demokratisierung der Mindestlohnkommission wäre denkbar. Bei der Sozialwahl klappt das schließlich auch.Placeholder authorbio-1