Nach dem Besuch des Colleges in Ibadan führte Wole Soyinka, wie es bei begüterteren Familien Nigerias üblich war, Mitte der fünfziger Jahre sein Studium in Großbritannien fort. Er kehrte immer wieder nach Nigeria zurück, wurde dort 1967 für 22 Monate ins Gefängnis gesteckt und lehrte danach in seiner universitären Karriere Literatur und Theater in Ibadan, Lagos, Cambridge und Yale. 1972 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel A Shuttle in the Crypt, in dem vier Poeme sich mit Hamlet, Gulliver, Ulysses und Joseph beschäftigten, vier mythischen und archetypischen Figuren aus der europäischen Kulturgeschichte. In ihnen verbindet Soyinka die europäische Moderne, ihre Formexperimente, ihre Mythenadaption und den Willen zum radik
zum radikal Neuen mit postkolonialen Motiven und Elementen. In Nigeria trug ihm diese hybride Mischung häufig den Vorwurf ein, er biedere sich bei einer anderen, fremden Kultur an und vernachlässige die eigene Tradition, aber lange bevor Edward Said die These aufstellte, eine nicht-hybride kulturelle Identität der kolonisierten Nationen sei weder erstrebenswert noch möglich, hatte Soyinka in seinen Romanen bereits Varianten interkultureller Lebensweisen durchgespielt. Am ambitioniertesten ist sein früher Roman The Interpreters von 1965. Sechs nigerianische Intellektuelle diskutieren und interpretieren ihre Kultur. Egbo ist der Sohn eines alten Kriegsherrn, in dem die alten Traditionen noch nachwirken, der sich aber von ihnen distanziert und ein selbstgewähltes Leben - die Existenz kommt vor der Essenz - erstrebt; Sekoni ist ein Experte für den Bau von Kraftwerken, der das Scheitern eines Projektes nicht verwindet und zum Beruf des Künstlers konvertiert, ein Beruf, den Bandele und Kola aus Berufung ergriffen haben; Dehinwa muss sich der Bevormundung durch ihre Familie erwehren, und Sagoe schlägt sich als Journalist durch. Alle sind Teil mehrerer Kulturen, wobei das Mischungsverhältnis, die berufliche Orientierung und die soziale Positionierung variieren. Die Sechs befinden sich in einer Dauerkonkurrenz, sie rivalisieren um die womöglich günstigste und ihrer Situation entsprechendste Haltung und modifizieren sie ständig aufs Neue in ihrem Verhältnis zu den zahlreichen Nebenfiguren. Soyinka bringt ein munteres Defilee der Stereotypen auf die Bühne - im beinahe unmetaphorischen Sinne, denn Die Ausleger ist ein Dialogroman, der von kurzen, expressiven Prosapassagen unterbrochen wird. Simi verkörpert den schwarzen Eros, in der Beziehung zu ihr bestimmen die Protagonisten auch ihr Verhältnis zu der vital und libidinös konnotierten Hautfarbe. Auf der anderen Seite stehen Peter Pinkshore, ein eingebildeter Amerikaner, der alle Schwarzen für Tramps und Schmarotzer hält, die sich bei ihm einnisten wollen, oder Joe Golder, ein reisender Hochschullehrer, der auf seiner Suche nach unverbildeten Völkern seine letzte Hoffnung auf den schwarzen Kontinent gesetzt hat. Zu seinem übergroßen Bedauern trifft er allerdings auf Sagoe, einen afrikanischen Ulysses, der, wie Leopold Bloom durch die Straßen Dublins, einsam und verloren durch Ibadan und Lagos streift. In Hintergrund rauschen die politischen und sozialen Konflikte Nigerias vorbei, die Korruption der Bürokraten, ein arrogantes und borniertes Universitätsmilieu, das Anpassung belohnt, sowie Landschaften, in denen die alten Mythen lebendig sind und neben ihnen solche, in denen der Petroleumgestank den Abbau der Rohstoffe signalisiert. Aber alles dreht sich um die sechs Interpreten. Sie begegnen schwarzen Versionen von Noah und Lazarus, sehen sich mit einer weißen Nonkonformistin und einem verzweifelt um Anpassung bemühten Schwarzen konfrontiert und müssen sich mit europäischem Kitsch und archaischen Bedrohungen herumschlagen. Ihre Dialoge sind anspielungsreich, und die Allusion ist denn auch das prägnanteste stilistische Mittel. Es verbindet nicht nur afrikanische und europäische Kultur, sondern sorgt daneben für eine offene Form des Romans. Die Leser haben es mitunter schwer, den Dialogen der Figuren zu folgen. Sie müssen sich den Kontext vorstellen und Beziehungen herstellen, die der Text nicht immer preisgibt. Soyinkas Roman vermeidet Nostalgie und Pathos, er schwelgt weder in afrikanischen Überlieferungen oder vitalen Typen noch klagt er westliche Dekadenz an. Die Leser teilen das Schicksal der Hauptfiguren. Suche und Experiment sind ihr permanentes Los. Die Ausleger ist in seiner Offenheit, Intensität und seinem Anspielungsreichtum das afrikanische Pendant zu den großen europäischen Romanen der Moderne. Seine Helden sind wie einst die Heroen der modernen Avantgarden Künstler, die stellvertretend für den Rest der Gesellschaft die Probleme der Welt schultern und lösen wollen. Der Maler Kola ist mit einem monumentalen Gemälde beschäftigt, für das er alle wichtigen Figuren des Romans porträtiert. Das Bild fungiert als Fluchtpunkt des Romans. Es ist am Ende so gut wie fertig, aber nicht zur Besichtigung ausgestellt. Vollendung wäre verlogen in einer Gesellschaft, in der lediglich die Posen fertig zur Benutzung freigegeben sind und nur experimentelles Verhalten, ohne Absicherungen und schützende Ideologien, eine offene Perspektive bietet. Der Autor verschweigt nicht, wie schwierig diese Haltung sein kann. Die sechs Intellektuellen zelebrieren kein harmonisches Beisammensein. Ihre Beziehung ist ständig von Missverständnis, Streit und Entzweiung bedroht. Egbo, Sagoe und die anderen begegnen sich häufig auf Cocktailparties. Der ehemalige Wahl-Brite Soyinka wird aber nicht nur T.S. Eliots einschlägiges Stück kennen, sondern wissen, dass die Cocktailparty ein Hauptmotiv der britischen Kultur ist und immer dann eingesetzt wird, wenn die latenten Konflikte manifest werden und die Gesellschaft zum Implodieren gebracht werden soll. In einem Interview hat Soyinka einmal die Funktion des Intellektuellen beschrieben: Der "Künstler funktionierte in der afrikanischen Gesellschaft immer als Aufzeichner der Sitten und Gesellschaftserfahrungen und als die Stimme der Visionen seiner Zeit". In den sechziger Jahren hatten viele afrikanische Intellektuelle dies viel pathetischer formuliert. Kunst galt als eine Waffe im antikolonialen Kampf, der Künstler als Kombattant. Auch wenn Soyinka in diesem Roman dem Künstlermotiv verpflichtet ist, so eindeutig und bestimmt hat er seine Rolle nie definiert.Die Ausleger ist ein aktueller Roman, denn die Forderung, ein experimentelles Verhältnis zu verschiedenen Kulturen einzugehen, hat sich über die antikolonialistischen Diskussionen hinaus auf andere Bereiche ausgedehnt. Dadurch tendiert diese Ansicht wiederum zur Beliebigkeit, so dass es ausgesprochen nützlich ist, diesen Roman aus den sechziger Jahren wiederzulesen und zu erkennen, wie kompliziert and ambivalent, alternativlos und verlockend diese Forderung sein kann. Wole Soyinka: Die Ausleger. Roman. Übersetzt von Inge Uffelmann, Ammann-Verlag, Zürich 2002, 343 S., 21,90 EUR
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