Mit 600 Warp durch die Bleiwüste

Die Ratgeberin Unsere Kolumnistin liest nicht mehr, um zu verstehen. Sie schießt nur noch so durch die Texte
Ausgabe 11/2017
Entschleunigung war gestern
Entschleunigung war gestern

Foto: Joe Raedle/Getty Images

Mit bis zu 600 Warp – Worten pro Minute – schieße ich als Schnellleserin neuerdings durch Texte. Teilweise kann ich nun sogar lesen, ohne irgendwas zu verstehen. Einfach die Zeilen entlang und die Buchstaben nur noch als Bild wahrnehmen. Bewusst nichts verstehen wollen! Das empfiehlt Wolfgang Schmitz’ Schnellleseratgeber.

Das ist extrem schwer für mich. Denn ich klammere mich immer noch an die fixe Idee, dass Lesen eigentlich heißt, die Buchstaben auf dem Papier noch während des Lesens in einen Gedanken zu verwandeln, sie also zu verstehen. Inzwischen weiß ich: Das ist veralteter Quatsch. Deswegen gurkte ich bislang nur im Schneckentempo voran, ergab mein Einstiegslesetest, der mir aber auch gratulierte, dass ich 100 Prozent des Textes verstanden hätte. Das verwirrte mich. Wie sollte ich weniger verstehen? Gemeinhin lese ich erst weiter, wenn ich den einen Satz kapiert habe: Idiotischer Perfektionismus, eine total kindliche Lesehaltung, habe ich jetzt erfahren. Sie ist schuld, dass ich mich stets so gehetzt fühle, weil ich all die Texte, die ich lesen will, nicht mehr schaffe. Deswegen wollte ich mich ja dem Schnelllesen widmen.

Nach nur wenigen Minuten Training hat sich meine Effective Reading Rate bereits von 234 auf 248 gesteigert. Anders ausgedrückt: Ich habe in derselben Zeit doppelt so viele Worte wie zuvor gelesen habe, von denen ich aber nur noch 60 Prozent verstanden habe. Bemessen an der Gesamtzahl der von mir verstandenen Warp eine eindeutige Verbesserung. Schmitz sagt: 60 Prozent Verständnis sind für den Anfang völlig okay, nicht wenige Leute verbesserten damit sogar ihr bisheriges Leseverständnis. Ich staune. Wieso lesen Leute Texte, von denen sie nur die Hälfte verstehen, überhaupt noch weiter?

Ich hätte längst aufgegeben. Aber gut. Dass die Heilung von schlechten Lesegewohnheiten mein Leseverständnis vorübergehend verschlechtert, leuchtet ein. Immerhin bin ich bei meinen allerersten bewussten Atemübungen auch fast erstickt, weil ich nicht mehr blickte, wann ich aus- und einatmen sollte. Inzwischen kann ich das sehr gut.

60 Prozent werden also nicht das letzte Wort sein, 100 allerdings auch nicht. Prinzipiell reiche es für die meisten Texte, wenn man 80 Prozent davon verstehe, sagt Schmitz. 100 Prozent – absolut überzogen. Hm. Wenn aber nun die fehlenden 20 Prozent zum Beispiel Verneinungen enthalten, man also „nicht“, „kein“ oder Ähnliches überliest, dann versteht man ja das genaue Gegenteil des Gemeinten. Ich scanne das Buch nach Hinweisen dazu: Fehlanzeige. Ich skimme das Buch nach Hinweisen dazu: Fehlanzeige. Ich paragraphe das Buch nach Hinweisen dazu: Fehlanzeige. Ich guck im Inhaltsverzeichnis. Das Problem wird nicht thematisiert.

Das treibt mich als Autorin um. Wäre es da nicht besser, wenn ich euch, liebe Leser, schlicht sage, welche 80 Prozent ihr verstehen sollt? Das ist einfach zu schaffen: Ich schreibe einfach nur 80 Prozent der Kolumne, die 20 Prozent, die keinen zusätzlichen Mehrwert ergeben, bleiben hier einfach leer, schön leer, ganz leer, leer, total leer, leer, leer, leer, ................ ..... . …........................................... ................................. ......... ....... …...................... ......... ...... ................ ..... .......... ............ ........ ..... ..................... ... ..................................... ....................... ..... .. ... ................ ......... ............ ....................... .......... .... ................ ............. ............. ..................... ...... .............. ............. ..... .... ...... ..... ........................... .... ....... ............ ........ .................... ....... ....... .......... ........ ............. ......

Nie war Speed-Reading einfacher, oder?

Susanne Berkenheger verteilt als Die Ratgeberin regelmäßig für den Freitag gute Ratschläge

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden