Mit Bahncard 100

Trip Eine Neofaschistin und ein deklassierter Snob laufen in „Night Train“ dem Leben davon
Ausgabe 18/2015
Polizisten bei der Arbeit in Belgien, aus der Serie „Police“ (siehe Info)
Polizisten bei der Arbeit in Belgien, aus der Serie „Police“ (siehe Info)

Foto: Sébastien Van Malleghem

Der Tod wartet oft genug irgendwo unerwartet, manchmal mitten in einem Zug, so wie in Anne Kuhlmeyers Night Train.

André ist ein Glückskind. Bis ihn seine Freundin aus dem Luxusleben an ihrer Seite hinausbefördert. Sein neues Obdach ist die Wohnung eines Freundes, von dort aus versucht er sich als Privatdetektiv. Ein paar hilfreiche Insignien des ehemaligen Wohlstands sind ihm zum Glück geblieben. Darunter auch eine Bahncard 100, mit der er kostenfrei durch Deutschland reisen kann.

Der rasante Abstieg ist ein hartes Los für André. Er liebt das Schöne, die hässliche Wirklichkeit seines Lebens, des Lebens überhaupt, blendet er lieber aus. Oft genug hat er in der Vergangenheit lieber weggesehen. Das hat auf seinem hellen Kaschmirpullover einige unschöne Flecken hinterlassen.

Bilder der Beilage

Police ist die erste Monografie des international renommierten Fotografen Sébastien Van Malleghem. Der 1986 geborene, gebürtige Belgier studierte Fotografie in Brüssel. Seine Langzeitprojekte befassen sich mit dem Thema Justiz in einem vereinigten Europa. Police ist der erste Teil einer Trilogie. Vier Jahre lang begleitete Sébastien Van Malleghem belgische Polizisten in ihrem Arbeitsalltag.

Für den zweiten Teil seiner Justiz-Trilogie besuchte Van Mallaghem 2011 drei Jahre lang ein belgisches Gefängnis. Die Serie Prisons wurde im Januar 2015 mit dem vierten Lucas Dolega photography Award ausgezeichnet. Prisons wird im Sommer 2015 von André Frère Éditions herausgegeben - Van Malleghem sammelt derzeit dafür über eine Crowdfunding-Kampagne.

Der dritte Teil des Projekts ist in Arbeit, Van Mallaghem will dafür im kriminellen Milieu fotografieren.

Auch Nicola hat lange weggesehen und versucht, die dunklen Schatten in ihrer Biografie zu verdrängen. Ihr Ex-Freund sollte sie aus einer verwahrlosten Existenz in Hellersdorf in ein besseres Leben führen. Stattdessen ist sie halbblind und mit entstelltem Gesicht im Zeugenschutzprogramm gelandet, weil sie nach einem tödlichen Anschlag auf einen Ausländer ihre rechten Kumpels verraten hat. Seitdem sieht sich Nicola jeden, der ihr begegnet, genau an – um zu überleben.

Auf den ersten Blick haben die beiden nichts gemeinsam, außer dass sie fast täglich im Pendlerzug Leipzig–Berlin sitzen. Erst als Nicola eines Morgens ihre Fahrkarte vergisst und André sie mit seiner Bahncard rettet, kommen sie ins Gespräch. Als sie dann auch noch über einen toten gemeinsamen Bekannten stolpern, den beide lieber vergessen hätten, zeigt sich, dass sie doch einiges verbindet. Aber weder Nicola noch André können es sich leisten, mit dem Ermordeten in Verbindung gebracht zu werden. Also fliehen sie. Kopflos. Gemeinsam. In Zügen. Quer durch die Republik. Ohne bestimmtes Ziel. Eine Woche lang. Sie schlafen, wenn sie Zeit dafür haben, essen, wenn sie dazu kommen, schütteln Verfolger ab, treffen fatale Entscheidungen und schieben das Leben auf. Aber nicht lange, weil man nie weiß, wie lange das Glück noch währt.

Am Ende löst sich vieles. Nicht alles. Einige Fragen bleiben offen. Der Leser muss selber weiterdenken – vor dem Hintergrund seiner eigenen Wirklichkeit. Vor der Realität rechtsextremer Gewalt. Im Zusammenhang mit dem immer noch ungeklärten Terror des NSU.

Mit ihrem fünften Roman Night Train schafft Anne Kuhlmeier einen untypischen Thriller, der an ein Roadmovie erinnert und von persönlichen Schuldfragen quer durch gesellschaftsrelevante Themen führt. Vom Menschenhandel bis hin zum Spiegel totalitärer Systeme. Schnörkellos in knappen, distanzierten Sätzen, von Absätzen zerhackten Zeilen, in Gedankenfetzen, im raschen Perspektivwechsel, dem Rhythmus der rollenden Züge folgend. Nicht immer ist dabei klar, was real, was Traum ist oder nur in der Vorstellung der Figuren existiert. Und wer ist der ominöse Beobachter, der den Leser erinnert, dass Totalitäres oft mit totalitärem Werkzeug bekämpft wird, der ihn mahnt, eben nicht dauernd wegzusehen?

Kuhlmeyers fachsicherer Umgang mit den im Verlauf der Geschichte auftretenden Opiaten, zu denen ihre Figuren immer wieder greifen, um den Schmerz ihrer Realität zu betäuben, sich zu retten, ist zweifellos ein Hinweis auf den Werdegang der gebürtigen Leipzigerin: Sie war 20 Jahre Medizinerin, bevor sie Traumatherapeutin wurde und Krimis zu schreiben begann.

Info

Night Train Anne Kuhlmeyer KBV Hillesheim 2015, 264 S., 9,95 € Edina Picco lebt als freie Autorin in Berlin

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Geschrieben von

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