Der Osten Deutschlands erscheint immer mehr als geteiltes Land: Städte wie Jena, Dresden und Frankfurt (Oder) gewinnen an Wirtschaftskraft. Ganze Regionen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen verlieren hingegen den Anschluss, fristen ein Schattendasein und veröden zusehends. Was ist zu tun? Edgar Most, als Banker einer der profiliertesten Kenner Ostdeutschlands, mahnt ein gesamtstrategisches Konzept an, das zunächst vor allem dem Mittelstand dienen soll.
FREITAG: Die zweite Stufe der Föderalismusreform steht an; die Finanzen sollen neu geregelt werden. Wird sich der Westen des Ostens entledigen?
EDGAR MOST: Wenn der Osten jetzt nicht weiß, was er will, ist er weg. Die Ministerpräsidenten dort müssen endlich mit einer Zunge sprechen. Was ich fürchte, ist, dass die Maastrichtkriterien für die Länderfinanzhaushalte eingeführt werden und dann ist selbst das reiche Sachsen nicht mehr zu finanzieren, weil nach und nach immer weniger Mittel aus dem Solidarpakt kommen: Schon 2011 werden 25 Prozent weniger ausgezahlt als heute. Womöglich wird man dann sagen, lasst uns Ostländer mit Westländern zusammenlegen; eine Länderehe Hessen-Thüringen etwa. Für mich ist zu hundert Prozent klar, dass der Osten nach der Förderalismusreform nicht mehr so gut dastehen wird wie derzeit. Die eigentliche Frage lautet daher: Wird es einen Solidarpakt III geben? Der Westen, glaube ich, wird das nicht mehr mitmachen.
Sie fordern ein völlig neues Denken in Sachen Ostförderung. Was heißt das?
Ein Beispiel ist die Unternehmenssteuerreform, die ab 2008 gilt: Warum können die ostdeutschen Firmen nicht mal zehn Jahre lang von der Steuer befreit werden? Ich fordere das nicht für die Großkonzerne, die haben genug, aber für den Mittelstand, damit er Eigenkapital erwirtschaften kann. Maßgabe muss natürlich sein, dass die Firmen das Geld investieren. Und dann dürfen sie nicht bestraft werden: Die LEIPA in Schwedt, Deutschlands größter Papierstandort, hat eine Maschine für etwa 700 Millionen Euro angeschafft. Bislang konnte sie die Zinsen für die Fremdfinanzierung absetzen, nun nicht mehr. Wer wird da noch investieren? Weil die wirtschaftliche Wiedervereinigung auch heute noch nicht gelungen ist, kann man nicht so weiter machen, wie bisher. Wenn sich der Osten nicht stabilisiert, bleibt er ein Problem für das ganze Land.
Was wäre denn nötig?
Ein gesamtstrategisches Konzept! Wir bräuchten noch mal einen Pakt Ostdeutschland, in dem alles einheitlich betrachtet wird: Bundes-, Landes-, Kommunal-, Wissenschafts-, Wirtschafts- und Regionalpolitik. Alles zusammen. Daraufhin müssen wir dann die Fördertöpfe prüfen: Taugen sie oder taugen sie nicht? Wer solche Fragen stellt, hat aber sofort alle Ministerpräsidenten des Ostens gegen sich. Die wollen die Gelder lieber für Haushaltslöcher und schöne Fassaden nutzen - Görlitz und Bautzen sind ja wunderschöne Städte, nur Arbeit gibt´s dort keine. Die Bürger, die da leben, hauen ab oder werden radikal. Mit bunten Häusern kommt der Osten jedoch nicht mehr auf schwarze Zahlen. Also, war es überhaupt richtig fünf Länder zu schaffen?
Das wird nicht mehr zu ändern sein.
Warum nicht?
Es müsste einen Volksentscheid geben und der wird keinen Erfolg haben. Die Fusion Berlin-Brandenburg ist ja auch gescheitert.
Weil man den Menschen in der Prignitz und der Lausitz Angst gemacht hat, der Moloch Berlin verschlucke sie. Doch ob es nun eine Landesgrenze gibt oder nicht, dem Kapital ist das gleich, das entscheidet nach Inhalten. Wir müssen verstehen, dass wir nicht mehr in einer Führungsrolle des Proletariats stecken, sondern des Kapitals. Und das muss so eingebunden werden, dass die Menschen etwas davon haben.
In der Sommerpause wurde diskutiert, ob der Solidarzuschlag abgeschafft werden soll. Ist das mangelnder Geduld oder mangelndem Verständnis geschuldet?
Als er eingeführt wurde, war das in Ordnung, aber heute halte auch ich ihn für nicht mehr geboten. Wenn er nicht aufgegeben wird, ist er de facto eine ewige Zusatzsteuer. Von mir aus kann er ab 2010 wegfallen. Aber wir müssen Äquivalente anbieten. Schließlich kann sich der Osten nach wie vor nicht selbst finanzieren: 48 Prozent aller Osthaushalte leben vom Finanztransfer, von Sozialleistungen und Renten.
In Ostdeutschland gibt es mittlerweile rund 420.000 mittelständische Betriebe. Ist das nicht ein großer Erfolg?
Natürlich, ich beglückwünsche jeden, der einen Betrieb gegründet hat, ich selbst habe bei 650 Gründungen mitgewirkt. Aber das reicht eben nicht. Die meisten kann man nur als Handwerksfirmen bezeichnen. 90 Prozent haben unter einer Millionen Euro Umsatz. Das ist doch kein Mittelstand! Im Westen setzt ein Mittelständler schnell mal ein paar Hundertmillionen Euro im Jahr um. Viele im Osten haben ja durchaus innovative Produkte, einige hätten sogar Weltneuheiten anzubieten. Aber es fehlt an Kapital, an Marktzugang und an Leuten, die die Produkte in die Welt bringen. Wir haben eine manifeste Krisenstruktur und niemand nimmt sich ihrer an.
Aber wir haben doch eine Kanzlerin, die aus Ostdeutschland stammt.
Die macht aber nichts. Sie sagt einmal im Jahr etwas und meint ja auch, man müsse was tun, damit der Osten nicht zu einer Bürde werde. Aber dass sie mal Leute berufen hätte, die ein Konzept ausarbeiten würden, das hat´s nicht gegeben. Ich hätte mir gewünscht, dass Frau Merkel mehr für Ostdeutschland fordert und manches noch einmal prüft, was die Dohnanyi-Kommission - der Gesprächskreis Ost - vorgeschlagen hat. Ich glaube, wenn Schröder nicht die Wahlen vorgezogen hätte, wäre man einige der 59 Vorschläge dieser Kommission bereits angegangen.
Warum gibt es diesen Gesprächskreis nicht mehr?
Verkehrsminister Tiefensee wollte ihn nicht. Er will mit uns höchstens über einzelne Fragen reden. Dabei ging es uns um ein Gesamtkonzept: Nehmen wir mal das Wassergeld. Das ist im Osten so hoch wie nirgends, weil wir nach der Wende das ganze Wassersystem neu gebaut haben und uns dabei am Stand von 1990 orientierten. Doch auf einmal ist keine Industrie mehr da. Und so ist der Verbrauch um fast 40 Prozent gesunken. Die ganze neue Infrastruktur ist für die Katz. An manchen Stellen müssen sie sogar einmal am Tag das Wasser aufdrehen, nur damit sich keine Mikroorganismen bilden. Das Wasser ist so teuer, dass es in Kirchen schon Protestresolutionen gab. Außerdem gibt es heute im Osten 600 Abwasserzweckverbände, in der DDR waren es zwölf, in Frankreich sind es vier. Wir müssen das auf ein gutes Dutzend reduzieren.
Und wie?
Man müsste den Erblastentilgungsfonds wieder aufschnüren. Aus dem sollten ja vereinigungsbedingte Schulden, etwa Altkredite, beglichen werden. Dieser Fonds wird seit 1995 für über 50 Jahre abgeschrieben, finanziert am internationalen Kapitalmarkt. Aber keiner geht da dran. Zu lästig, zu mühselig und die Ministerpräsidenten des Ostens sind nicht brutal genug, sich durchzusetzten. Jeder sieht nur sein Ländle, weil er weiß, dass im Osten unterm Strich nur zwei Länder zu finanzieren sind.
Trotz allem tut sich doch etwas: In Dresden hat sich die Chipindustrie angesiedelt, in Jena biotechnologische Unternehmen, in Schwerin wird für Airbus produziert und Frankfurt (Oder) wird als "Solar Valley" bezeichnet. Versprechen diese Cluster den Aufschwung?
Es gibt Leuchttürme, keine Frage, aber es gibt auch Regionen, die sterben weg, die Prignitz, die Lausitz, das sind Armutsgebiete wie im Deutschland nach dem Krieg. Leider ist mittlerweile wahr, was wir damals im Gesprächskreis Ost noch zugespitzt haben: Der Osten ist verarmt, vergreist und verdummt. Leider, leider ist das wahr. In den neuen Ländern gibt es mehr alte Menschen als im Westen, es gibt mehr Männer, es fehlt an Frauen, die Geburtenrate ist im Keller. Der Osten war jahrelang der Jungbrunnen des Westens. Man kann sich heute ausrechnen, wann es uns nicht mehr gibt. Eigentlich müsste ein Aufschrei durch das Land gehen.
Ginge es nach Ihnen, würden sich kurzfristig 3.000 neue Unternehmen im Osten ansiedeln. Welche und wo?
Das entscheidet der Markt. Wir sind sehr gut in der Umwelttechnik, in der Biotechnologie, in der Biomedizin. Aber die Unternehmen sind zu klein. Denen fehlt der Rückhalt, den die Industrie in der Welt braucht. Ich will sagen, dass wir doppelt so viele Industriearbeitsplätze benötigen. 3.000 neue Unternehmen, das ist natürlich eine Utopie, aber erst dann hätten wir im Osten eine Wertschöpfung, die eine selbsttragende Gesellschaft ermöglichen würde.
Über 1.200 Milliarden Euro wurden in den Osten gepumpt. Am Geld scheint es also nicht zu liegen.
Wir haben vielfach falsch investiert; Menschen machen halt auch Fehler. In Berlin hätten wir beispielsweise das Handelshochhaus aus DDR-Zeiten zu einer zentralen Leitstelle für Osteuropa machen müssen: Jedem, der nach Russland, Kasachstan, Georgien will, hätten wir dort alle nötigen Informationen anbieten müssen, Anwälte, Wissenschaftler, Finanzexperten hätten dort Büros beziehen müssen. Heute ist es dazu fast schon zu spät, Wien hat uns den Rang abgelaufen.
Vieles, was in der DDR geschaffen wurde, war einfach nicht rentabel.
Das ist doch Quatsch. Wir hatten als einziges Land der Erde ein synthetisches Verfahren, um Eiweiß zu gewinnen. Und Eiweiß braucht man immer. Zugegeben, es war Innovation durch Mangel, weil wir kein Fischmehl und keine Sojabohnen mehr aus den USA bekamen. Deshalb war die Eiweißgewinnung für uns so wichtig wie für die Großmächte die Atombombe. Die kann Leute vernichten, wir konnten sie ernähren. Wir haben es sogar geschafft, aus Erdöl Futterhefe zu produzieren: Erst filtert man die Mikroorganismen aus dem Öl, dann schickt man alles über eine Impfstraße und hinten kommt die Hefe heraus. Hat uns eine Milliarde Ostmark gekostet. Mit der Hefe wurden Schweine und Hühner gefüttert. Gut, manchmal schmeckten die Eier nach Erdöl, dafür schmecken sie heute nach Fischmehl. Alles wurde abgerissen, alles ist weg! Dabei können wir es doch. Warum nur lassen wir soviel Wissen ungenutzt brachliegen?
Sie haben 2002 Putin und Schröder erzählt, dass in der russischen Fischfangflotte noch 130 Schiffe in Betrieb seien, die in der DDR gebaut wurden. Sie haben vorgeschlagen, dass Deutschland die Wartung übernimmt und dafür am Fischfang beteiligt wird. Was ist daraus geworden?
Punktuell ist einiges entstanden. Ich hatte das ausgearbeiten lassen und hundert Betriebe aufgeschrieben, mit denen man solche Kooperationen machen könnte. Putin hat den Vorschlag aufgegriffen. Aber das ganz Große, was ich vorhatte, dass nämlich die Wirtschaft aufgeputscht wird, ist uns nicht gelungen.
Die Privatvermögen in Ost und West, sagten Sie vor fünf Jahren, bräuchten 100 Jahre, ehe sie angeglichen sind, die Wirtschaft mindestens 25 Jahre. Stimmt das noch?
In der Generation meiner Enkelkinder werden die Vermögen auf jeden Fall noch nicht angeglichen sein. Einen Wirtschaftsboom sehe ich ebenfalls nicht. Uns bleibt nur, ein Anreizsystem zu schaffen für die internationalen Kapitalströme. Und das geht nur über niedrige Steuern. Warum probiert man das nicht mal für zehn Jahre? Die Polen machen es ja auch, die Tschechen, die Balten. Nur wir diskutieren noch nicht einmal darüber. Bei EU-Kommissar Günter Verheugen ist jedenfalls nie eine Anfrage der Bundesregierung eingegangen. Dabei müssen wir uns überlegen, wie wir uns in einer globalen Welt aufstellen wollen.
Wurde im Osten zu viel privatisiert?
Es wurden zumindest gewisse Maßstäbe nicht eingehalten. Wenn ich Wohnungen privatisiere, etwa in Dresden, dann muss ich auch Sozialstandards verkaufen und wenn die nicht eingehalten werden, fallen die Wohnungen wieder an die Kommunen zurück. So einfach ist das. Wir müssen nach einem neuen Weg suchen und dazu muss der Osten neu gestaltet werden. Außerdem dürfen nicht nur die Rosinenstücke verkauft werden. Die Frage ist: Wie viel Staat brauche ich, wie viel Markt, wo gibt es Widersprüche? Lafontaine macht es sich da zu leicht, wenn er das private Kapital geißelt. Ich weiß nur aus meiner Lebenserfahrung, dass der Staatssozialismus versagt hat und die soziale Marktwirtschaft ja nun auch nicht mehr umjubelt wird. Wir müssen nach einem neuen Weg suchen, denn die Inder, Chinesen und Russen entwickeln sich derzeit rasant.
Das Gespräch führte Dirk Friedrich Schneider
Edgar Most, geboren 1940 im thüringischen Tiefenort, war bis 1989 Vizepräsident der DDR-Staatsbank. Nach der Wende wurde er Mitglied der Geschäftsleitung der Deutschen Bank Berlin. Most leitete jahrelang den so genannten "Gesprächskreis Ost" - auch als "Dohnanyi-Kommission" bekannt. Im Juni 2004 legte der Kreis seinen Abschlussbericht vor. Für Kanzler Schröder galt Most zeitweilig als Kandidat für das Amt eines Ostbeauftragten.
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