Die gegenwärtige Weltlage wird im amerikanischen Film Godzilla kursorisch, aber zutreffend beschrieben. "Size matters" - Größe zählt - lautet sein Wahlspruch, und eben so benehmen sich heute die fusionierenden Konzerne. Die Crux des Films besteht lediglich darin, dass ein Solitär über den Erdboden trampelt - vierzig davon, und Roland Emmerich wäre ein großer Realist. "Small is beautiful" dagegen hieß es einst in den rebellischen Sechzigern, und unter diesem Stichwort lassen sich auch die politischen Essays Ekkehart Krippendorffs begreifen. "Wann immer etwas schiefgeht, dann ist es zu groß", zitiert er den amerikanischen Sozialphilosophen Leopold Kohr.
In der Tradition Max Webers konstatiert Krippendorff, dass ein auf Abstraktion beruhendes G
aktion beruhendes Gesellschaftssystem zu einer Form bürokratischer Herrschaft führt, deren eine Folge eine zügellose Machtpolitik darstellt. In den Zwanzigern wurde viel diskutiert, wie der Typus des Machtpolitikers zu vermeiden oder zumindest wirkungsvoll zu kontrollieren ist. Bekannt sind Max Webers sarkastische Kommentare zum politischen Personal seiner Zeit. In den USA überlegte der große Liberale John Dewey, wie Demokratien die Auswahl ihrer Amtsträger am Besten regeln sollte. Aber auch ihm fiel nicht ein, wie parlamentarische Systeme es anstellen könnten, dass moralisch denkende, integre und auch nicht durch Macht korrumpierbare Personen an die Schaltstellen gelangten, und so blieb ihm nur übrig, eine Beschränkung der Regierungsgewalt zu fordern. Krippendorffs Antwort fällt heute nicht viel anders aus. Nach wie vor stehen sich die Anforderungen an den Beruf des Politikers und das Postulat nach einer ethischen Fundierung von Amts trägern so fremd gegenüber wie Hannibal Lecter und Immanuel Kant. Aber so ganz mag Ekkehart Krippendorff diesen finsteren Realismus nicht teilen. In seinem Buch Die Kunst, nicht regiert zu werden versammelt er Beispiele dafür, dass hier keine eherne Notwendigkeit regiert. Von Sokrates und Konfuzius reicht die Galerie der Vorbilder bis zu Lincoln und Gandhi. Der Autor rekonstruiert ihre politischen Rahmenbedingungen und die Art und Weise, wie sie eine ethische Überzeugung in öffentliches Handeln umsetzten. Was an diesen Protagonisten überzeugt, ist aber weniger ihre Vorbildfunktion, die sich in eine kopierfähige Lehre konvertieren könnte, sondern die Form des historischen Denkens, zu dem sie Anlass geben. Krippendorff schwenkt mühelos von der griechischen Polis zur Politik im 20. Jahrhundert - von Perikles zu den Durchhalteparolen der Nazis, von der chinesischen oder indischen Vorzeit zu hochindustrialisierten Gesellschaften. Die assoziative Verbindung von unterschiedlichen Gesellschaftsformationen ist Ausdruck einer politischen Phantasie, die sich nicht von herrschaftsdominierten Sachzwängen unterdrücken lassen will. Tatsächlich lesen sich viele Klassiker der politischen Philosophie, angefangen mit der Politik des Aristoteles, verblüffend aktuell. Eine Lektüre wie die von Krippendorff reaktiviert das progressive Potenzial der Geschichte und aktualisiert das, was einmal gedacht und sogar in Praxis umgesetzt wurde. Statt also das Tal der Tränen und des Jammers zu durchwandern, das die gegenwärtige Politik darstellt, sucht dieser Politologe nach exemplarischen Haltungen. Er findet sie bei Sokrates und Konfuzius, bei Karl Kraus und Mozart, die alle auf eine besondere Art konsequent und beispielhaft eine kritische und ethisch motivierte Position in ihren Gesellschaften einnahmen. Am liebsten würde Krippendorff die Politiker daraufhin prüfen, inwieweit sie die ästhetische Bildung und Kultur ihrer Bürger und Bürgerinnen beförderten - in der stillen aufklärerischen Hoffnung, dass ab einer gewissen Menge genossener Kultur oder kulturinspirierter politischer Reflexion das Maß an Niedertracht in einer Gesellschaft sinkt. Folglich ist es kein Wunder, dass neben der antiken Polis der Geheime Rat Goethe in den Essays immer wiederkehrt und ihm sogar ein eigenes Buch gewidmet ist.In Goethe. Politik wider den Zeitgeist geht es in erster Linie um den Staatsmann Goethe. Nachdem es lange währte, bis endlich auch die amtlichen Schriften in der "Frankfurter Ausgabe" Goethes ediert wurden, hat Krippendorff die Tätigkeit des Weimarer Ministers - neben Kunst und Wissenschaft auch zuständig für Straßen- und Wegebau, Fluss regulierung und Bergbau - untersucht. Da diesem Arbeitsbereich des Klassikers bislang wenig Beachtung geschenkt wurde, ist dieses Goethe-Buch eine überzeugende Ausnahme in der Publikationsflut des vergangenen Jahres. Detailliert werden hier Goethes Engagement im Ilmenauer Bergbau, seine Reise in den Orient oder über die Schlachtfelder Europas beschrieben. Entgegen der Ansicht vom Fürstenknecht, die der Jakobiner Ludwig Börne verbreitete, arbeitet Krippendorff die politischen Maximen des Ministers heraus, die sich am seinerzeit Möglichen orientierten und in ihrer Originalität auch den Nachgeborenen zu denken geben. Ob allerdings Goethe auch ein glaubwürdiger Zeuge für die politischen Ansichten des Autors ist, dass allein in einem überschaubaren Raum eine sinnlich wahrnehmbare Politik möglich ist und auf dieser Ebene die Demokratie gegen zentralisierte Machtkomplexe verteidigt werden muss, scheint fraglich. Ein Intellektueller wie Goethe, der häufig als Kronzeuge vor das Weltgericht geladen wird, gerät leicht in den Verdacht, allzu disponibel zu sein. An anderem Ort als in Weimar aber wäre der Staatsmann Goethe nicht möglich gewesen, und Deutschland müsste weiter auf den ersten Minister warten, der tatsächlich Abrüstung betreibt. Selbst die bescheidene Demobilisierung von 284 Mann, so dass eine Rest-armee von 248 Infanteristen und Husaren verblieb, rechtfertigt das Lob des Politikers Goethe.Seine Abschiedsvorlesung an der Berliner Universität hatte Ekkehart Krippendorff mit dem Wort "Unzufrieden" überschrieben. Er meinte damit nicht nur seine persönliche Bilanz, sondern auch das Unvermögen einer Politischen Wissenschaft, eine neuerliche "gewaltgestützte Machtpolitik" in Deutschland zu verhindern. In seinen Essays aber hat er sich nicht gescheut, der Realitätsferne verdächtigt zu werden und im Gegenteil zu erklären, wie es auch anders gehen kann - und das aus dem einfachen Grund, weil es nachweislich schon einmal anders gegangen ist. Eine Politische Wissenschaft, die sich an der Parteien-Realität orientiert, hätte den Namen nicht verdient. Es bleibt das nicht hoch genug zu schätzende Verdienst von Krippendorff, dass seine Art, diese Wissenschaft zu betreiben, die Distanz zum etablierten Betrieb politisch produktiv erscheinen lässt.Ekkehart Krippendorff: Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 467 Seiten, 56,- DM Ekkehart Krippendorff: Goethe. Politik gegen den Zeitgeist. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999, 232 Seiten, 44.- DM
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