"Wandel ohne Verzögerung" will Brasiliens am 1. Januar vereidigter Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva. Den Kampf gegen den Hunger begreife er als "nationale Mission", so wie das einst für die Industrialisierung des Landes gegolten habe. "Wandel" bedeute auch Abschied vom bisherigen Wirtschaftsmodell. Mit ähnlichen Vorstellungen war 1998 in Venezuela Präsident Hugo Chávez angetreten, der seit mehr als einem Monat um sein politisches Überleben kämpft.
Kaum waren im Herbst 2002 die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Brasilien und Ecuador bekannt, begannen Analysten, vorzugsweise in Nordamerika, über einen neuen "Linksblock in Lateinamerika" (unter Einschluss Venezuelas und Kubas mit den Präsidenten Chávez beziehungsweise
z beziehungsweise Castro) zu meditieren. Der Grund schien einleuchtend - aus beiden Voten waren linke Bewerber als Sieger hervorgegangen. Allerdings traf diese Version von Anfang an auf eine Art Gegendarstellung, die in etwa lautete: Lula da Silva in Brasilia und Lucio Gutiérrez in Quito seien alles andere als "linke Politiker", eher "charismatische Opportunisten", die sich längst mit dem neoliberalen Zeitgeist ausgesöhnt hätten. Beide Lesarten verdienen es, Ernst genommen zu werden, weil sie bei aller Gegensätzlichkeit des Urteils vor allem auf die Handlungsspielräume anspielen, die nationalen Regierungen heute auf dem Subkontinent - noch - zur Verfügung stehen.Festzuhalten bleibt zunächst: Lateinamerika laboriert im Januar 2003 an Auslandsschulden von 675 Milliarden Dollar, leidet unter einer andauernden Rezession und ist damit konfrontiert, einem resoluten Freihandelsdiktat der USA in Gestalt der ALCA (s. Kasten) unterworfen zu werden. Ein Neuverhandeln der Schulden, eine binnenmarkt- und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und nicht zuletzt ein Veto in Sachen ALCA wären denkbare Normative linker Politik. Doch es bedarf keiner prophetischen Gabe, um zu wissen, dass die Präsidenten Lula und Gutiérrez sich nicht daran halten können. Sie wurden als Symbolfiguren einer Alternative links von der Mitte gewählt, dürften sich aber von den Realitäten und den Bedürfnissen der metropolitanen "Neuen Mitte" ihrer Länder dazu degradiert sehen, die Ohnmacht staatlicher Autorität im Sog eines neoliberalen Mainstreams zu verwalten.Man nehme Venezuela als Menetekel - nachdem dort 1998 Hugo Chávez zum Präsidenten gewählt war und Sozialreformen zu Gunsten der verelendeten Volksmassen des informellen Sektors dekretierte, stieß er bald auf eine Phalanx mächtiger Gegner, die inzwischen zum Äußersten entschlossen scheinen. Ein mit dem alten fordistischen Wohlfahrtsstaat verwachsener Machtklüngel aus Gewerkschaftern, technokratischer Elite in Staatsfirmen wie der Ölgesellschaft PDVSA und der Privatwirtschaft drängt das Land einer Walpurgisnacht aus Pogrom und Putsch entgegen. Die soziale Spaltung durchzieht als politischer Bruch die Gesellschaft. Anders als bei der Hungerrevolte von 1989, die der sozialdemokratische Präsident und hofierte Hoffnungsträger der Sozialistischen Internationale (SI), Carlos Andrés Perez, zusammenschießen ließ, steht die Regierung diesmal nicht auf der Seite des Establishments. Darum wohl trifft sie tödlicher Hass. Alles in allem ein bemerkenswertes Zusammenspiel der Ereignisse, während Venezuelas Staatskrise ultimativen Entscheidungen entgegen treibt, werden in der Nachbarschaft zwei Präsidenten vereidigt, die Hugo Chávez programmatisch und kulturell nahe stehen und sein Schicksal als Warnung begreifen müssen, wird ihnen doch schon unterstellt, die mutmaßliche "Achse" Caracas-Havanna um die Segmente Brasilia und Quito erweitern zu wollen.Der RieseBrasilien erwirtschaftet heute als - um es ausdrücklich zu sagen - Industrienation (im globalen Ranking auf Platz neun) mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in Lateinamerika. Eine Regionalmacht, die über Potenzial verfügt, um den USA Paroli zu bieten, wäre da nicht eine Auslandsschuld von 220 Milliarden Dollar - zwei Drittel des BIP, das dem Land am Amazonas 2002 zur Verfügung stand.ALCA - Area de Libre Comercio de las AméricasBis 2005 soll diese vorzugsweise von den USA angestrebte panamerikanische Freihandelszone von Alaska bis Feuerland entstehen. Seit Ende 1994 verhandeln darüber 34 Staaten - alle Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bis auf das boykottierte Kuba. Die ALCA zielt darauf, die bestehenden Hemmnisse für den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr graduell abzuschaffen, um die Verflechtung innerhalb der OAS zu stärken. Sie soll mit den Ordnungsprinzipien des Welthandels, die von der Welthandelsorganisation (WTO) propagiert werden, kompatibel sein und keine "à la carte-Option" für einzelne Länder erlauben - alle OAS-Staaten müssen demnach an allen Verhandlungsabschnitten teilnehmen. Dagegen richtet sich der Widerstand Brasiliens und Argentiniens, die nicht zuletzt befürchten, dass ihre regionale Marktinitiative MERCOSUR davon beeinträchtigt wird."Lulas" Wahlsieg vom 27. Oktober hatte ein Vorspiel, das diese Realität respektierte. Seine Arbeiterpartei (PT) verzichtete bei ihrer Kampagne auf die gewohnt linkssozialistische Rhetorik und ließ sich von ihrem Chefstrategen José Dirceu eine Allianz mit der rechtsbürgerlichen Liberalen Partei (PL) verordnen, deren Protagonist José Alencar, ein milliardenschwerer Unternehmer, am 1. Januar an der Seite "Lulas" die Vizepräsidentschaft übernommen hat. Ein Bündnis zwischen Kapital und Arbeit, das 53 Millionen Brasilianern, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben, aus der Armutsfalle helfen soll. Lulas Plan Forme Zero garantiert ihnen über den einen Dollar hinaus drei Mahlzeiten pro Tag. Zehn Millionen neue Arbeitsplätze sind im Gespräch. Ein Vorhaben ohne Beispiel in der brasilianischen Wirtschaftsgeschichte.Vor seiner Vereidigung reiste Lula zum schwer angeschlagenen Nachbarn Argentinien, um ökonomischen Beistand zu versprechen und dachte laut darüber nach, die lateinamerikanische Freihandelszone MERCOSUR zu revitalisieren - neben den Begründern Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien gehören Chile und Bolivien als assoziierte Mitglieder dazu. Aus den ALCA-Verhandlungen will Brasilien deshalb nicht aussteigen, weil das nur dazu führen würde, die USA zum Abschluss bilateraler Freihandelsverträge mit einzelnen südamerikanischen Staaten zu veranlassen.Auch der Schuldendienst bleibt unangetastet. Der Präsident betrat am 28. Oktober, einen Tag nach seinem Wahlsieg, das Parkett der Börse von Sao Paolo, um die Broker zu beruhigen: er werde sich der vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erlassenen Direktive fügen und auf einen Haushaltsüberschuss (!) von 3,7 Prozent zusteuern, an den ein 30-Milliarden-Dollar-Kredit gebunden ist. Keine ermutigende Startposition für einen Präsidenten, der einen "Wandel mit Mut und Vorsicht" vorantreiben möchte.Der ZwergDer andere linke Präsident, der einstige Oberst Lucio Gutiérrez aus Ecuador, hat am 21. Dezember 2000 den indianischen Aufstand von Quito unterstützt, um danach aus der Armee verstoßen zu werden. Zum Staatschef gewählt, sieht er sich nun einer Stimmung gegenüber, die kaum weniger explosiv ist als vor zwei Jahren. Ecuador, mit lediglich 13 Millionen Einwohnern der kleinste Andenstaat, hat eines der wichtigsten Instrumente zur Regulierung seiner maroden Wirtschaft eingebüßt. Die Währung wurde 1999 "dollarisiert", der Sucre für den Dollar aufgegeben, und das Land schlittert weiter am Rand eines Kollaps. Gutiérrez wird viel erreicht haben, wenn es nicht dazu kommt - wenn dank eines weltweit steigenden Ölpreises die Einnahmen aus dem wichtigsten Exportprodukt (36,5 Prozent der Ausfuhren) nach oben weisen und die Armut zunächst einmal "stabilisiert" werden kann.Lucio Gutiérrez besitzt keine Mehrheit im Kongress. Er hatte die Stichwahl um das höchste Staatsamt am 24. November vor allem deshalb so überraschend klar gegen den Multimillionär Alvaro Noboa gewonnen, weil er die korrupte Oligarchie ungemein heftig und die ALCA gar als "Form nordamerikanischer Annektion" attackierte Er vermied es jedoch, die Dollarisierung der nationalen Ökonomie in Frage zu stellen. Gutiérrez stützt sich auf eine Mitte-Links-Allianz aus der Indígena-Bewegung CONAIE und dem Movimiento Popular Democrático (MPD). Seine eigene Gruppierung Sociedad Patriótica 21 brilliert durch Improvisation. Gern wird in ihren Reihen die Anekdote kolportiert, kurz vor dem ersten Wahlgang am 20. Oktober habe eine Passantin Gutiérrez auf der Straße in Quito erkannt und dazu bewegen können, für die Präsidentschaft zu kandidieren.Dennoch, ohne Währungshoheit und parlamentarische Mehrheit droht Ecuadors neuer Präsident politisch ausgehungert zu werden. Ein Ausstieg aus dem ALCA-Prozess oder gar ein Moratorium bei den Auslandschulden wären glatter Selbstmord. So bleibt nur die Chance, einen betont populistischen Kurs zu verfolgen und sich auf den Veränderungswillen der indianischen Bewegung zu berufen.Fazit - Lula da Silva und Lucio Gutiérrez sind keine Wundertäter, die gemeinsam Myrrhe, Weihrauch und Salbei über ihre Länder ausschütten werden. Ihnen bleibt bestenfalls Spielraum, sich der verheerendsten sozialen Verwerfungen anzunehmen. Auch ihre Außenpolitik wird vorerst keine regionale Trendwende einläuten und die Freihandelsszenarien der USA nicht umschreiben. Der "Linksblock" muss sich - wenn überhaupt - auf die Gratwanderung zwischen Konformismus und dem Emanzipationswillen gegenüber Nordamerika begeben, bestenfalls. Allen Akteuren des Wandels sitzt allerdings die Erwartung ihrer Anhänger im Nacken - in Brasilien "Lulas" Partei-Basis und die Landlosenbewegung MST, in Ecuador die indígene CONAIE. Hier gibt es im Übrigen den entscheidenden Unterschied zu Venezuela - die "Bolivarische Revolution" vollzog dort einen einschneidenden Politikwechsel, begann aber erst dann, für die Basis dieses Wandels zu sorgen. Ecuadors Ökonomie 2002/200320022003*Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf (in Dollar)1.5941.724Inflationsrate / Jahresmittel (in Prozent)10,010,0Arbeitslosenrate / Jahresmittel (in Prozent)10,09,5Auslandsverschuldung (in Prozent der Exporte)272270Leistungsbilanzsaldo (in Prozent des BIP)- 3,3- 3,5*Prognose Quellen: SELA / NZZ
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