Mit den Erfolgen wachsen die Gefahren

MEHR WEIT- UND WELTSICHT Plädoyer für Mut im Reformdetail, gegen Verbalradikalismus und tagespolitischen Pragmatismus in der PDS

Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass die PDS mit einer Bundestagsfraktion ins Jahr 2000 gehen würde, im Osten sogar als zweitstärkste Partei? Dass sich im Westen die Mitgliederzahlen von 1997 bis 2000 fast verdoppeln würden, dass die PDS dort in der Sonntagsfrage bei über zwei Prozent liegt, ergo gesamtdeutsch bei sieben bis acht? Und dass sie bei den Kommunalwahlen in NRW und Baden-Württemberg 1999 so erfolgreich abschneiden würde?

Aber wie das links so ist: mit den Erfolgen wachsen die Gefahren. Obwohl die PDS noch häufig genug ausgegrenzt wird - Beispiel Rentengipfel: der Charme des Stigmas schwindet. Mit der Stärke wächst die größere Spannbreite der PDS und somit auch die Spannung. Als Widersprüche zwischen Alt und Jung, zwischen Pragmatikern und Visionären, zwischen Ost und West. Und: Auch die Verführung zur Denunziation Andersdenkender wächst. Das erleichtert unseren Gegnern so einiges. Sie bekämpfen uns längst nicht mehr nur pauschal in Frontalangriffen, sondern differenziert per Belastung innerer Schwach- und Bruchstellen. Aber: Abschottung gegen sozialdemokratisch orientierte Linke ist mit uns ebenso wenig zu machen, wie Ausgrenzung von KommunistInnen oder Verramschung sozialistischer Begriffe auf Mediendruck.

Natürlich kommt uns nach dem Zusammenbruch des versuchten Sozialismus der Begriff "Planwirtschaft" nur mühsam über die Lippen. Unser Gegner will nicht nur dieses Wort gestrichen haben. "Wirtschaftsplanung" soll das alleinige Vorrecht der transnationalen Monopole Großbanken, der kapitaldominierten Staaten werden. Überleben kann die Menschheit aber nur durch nichtkapitalistische, demokratische Ressourcenplanung mit dem Klima auf unserem Globus, mit den eng begrenzten Vorräten an fossiler Energie und Trinkwasser.

Auch der Marxsche Begriff der "Klassen" kann an Infoständen gängiger ersetzt werden. Fest steht allerdings, dass weltweit die klassifizierbare Zahl der Menschen, die ohne strategischen Besitz sind - Marx nahm den Begriff Proletarii willkürlich aus dem alten Rom, wo er für "besitzlose Bürger" stand - immer weiter wächst. Nebenbei: Die Fusion der beiden Großbanken ist nun nicht gerade Widerlegung des Begriffs "Monopolkapital". Und: Die schwarzen Koffer waren dreister als selbst manche Verballhornung der Stamokap-Theorie.

Bei der Überarbeitung unserer programmatischen Ziele setzen wir uns nun nicht unter unrealistischen Zeitdruck. Sie sind allen Fragen von Regierungsbeteiligung und Wahltaktik 2002 übergeordnet. Allerdings ist auf vielen Feldern der Mut der PDS zum Reformdetail noch zu stärken. Darum müssen wir ab sofort unsere Diskussion verbreitern und intensivieren, besonders was ein realistisches Bundestagswahlprogramm anbetrifft. Was kann denn eine Fünf- bis Acht-Prozent-Partei seriös in einer Legislatur versprechen und erreichen? Wer ist dabei notwendiger inner- und außerparlamentarischer Partner? Wie schaffen wir, dass "Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor" (ÖBS), "soziale Gerechtigkeit", "regionale Wirtschaftskreisläufe", "zivile Konfliktlösung", "Antikapitalismus" keine Chiffren bleiben, sondern in konkreten Projekten "anfassbar" und mit Steuer- und Renten-Reform verknüpfbar werden?

Wer Reform-Mühen denunziert, hindert in Wahrheit Antikapitalismus an realer Bewegung. Die regionalen Wirtschaftskreisläufe zum Beispiel sind ein Weg zur ökonomisch-produktiven Entschleunigung der Arbeitsprozesse. Damit werden Stoff und Energie gespart, wird Müll vermieden, Arbeit in Regionen transportiert, wo sie gesellschaftlich benötigt, aber nicht, wo sie am billigsten und ausbeutbarsten ist. Wer dabei auf Solarenergie setzt, wird sich mit Atomlobby und Kapitalmacht anlegen müssen. Wer auf Mehrwegbehälter setzt statt auf Müllberge, die unsere Kinder und Enkel dermaleinst entsorgen sollen, braucht dezentrale Spülsysteme, ein anders formatiertes Behältersystem und dafür innovatives Gewerbe. Darum müssen die Förder-Milliarden z. B. weg von Siemens und zu den Kleinbetrieben infrastrukturschwacher Gebiete. Wer das recycelbare Auto möchte, muss Werkstätten gegen Konzernvorstände, Piëch Co. stärken. Das schafft neue Arbeits- und Ausbildungsplätze und mehr regionale Gerechtigkeit.

Die "Zeitpiraterie" (Elmar Altvater), die "Arbeit Weniger" immer mehr intensiviert und an wenigen metropolitanen Orten konzentriert, bedeutet Raubbau an der menschlichen Natur und der natürlichen Umwelt. Eine "Entschleunigung" der Arbeit - nicht nur durch Arbeitszeitverkürzung -, eine nachhaltige Produktivitätssteigerung erfordert den Bruch mit der Kapitalverwertung. Solange diese Kapitalmacht aber nicht gebrochen ist, müssen im Hier und Heute durch Millimeterarbeit Leben und Gesundheit geschützt, muss Druck gelindert und Frieden etwas sicherer gemacht werden. Alle, die für eine radikal bessere Welt eintreten, haben aktuell ihre reformerische Kraft zu beweisen. Und allen, die hier und heute Vertrauensarbeit in Betrieb und Stadtteil leisten, hilft die sozialistische Orientierung auf das Ziel. Beides - um hier Bernstein und andere zu korrigieren -, also Weg und Ziel, bedingen einander.

Verbalradikalismus ist da ebenso kontraproduktiv für die Weiterentwicklung unserer Partei wie der schiere tagespolitische Pragmatismus. Wer in einer Gebietskörperschaft Haushaltslöcher nur durch das Aufreißen neuer deckeln möchte, ohne die Einnahmeseite der öffentlichen Hände und die großen Steuerverweigerer wie Großbanken und Konzerne öffentlich zu benennen, wird bald merken, dass andere Parteien das besser können. Wer aber auf Haushaltsengpässe nur mit abstrakt-antikapitalistischen Glaubensbekenntnissen antwortet, wird wenig Vertrauen in die PDS schaffen. Wir müssen uns mehr Weit- und Weltsicht erarbeiten, aber auch mehr lokale Detailkompetenz - und beides gegen den zeitgeistigen Mainstream. Besonders, um in soziale Kämpfe mit konkreten Reformperspektiven eingreifen zu können. Liebgewordene Traditionsbegriffe müssen, um in der Gesellschaft lebensfähig zu bleiben, detailfreudig zu Projekten konkretisiert, also zukunftsfähig entwickelt werden. Man ist nicht dadurch seiner Zeit voraus, dass man die Uhr zurückstellt.

Wir wissen: Die bestehenden rechtlichen Systeme der BRD reichen nicht aus. Vieles davon ist übrigens von der Arbeiterbewegung (und auch indirekt mit von der DDR) erkämpft worden. Die Tarifautonomie zum Beispiel, das Frauenwahlrecht, das moderne Arbeitsrecht und das Sozialstaatsgebot von Artikel 14 im Grundgesetz. Mit den Gewerkschaften als unserem primären Partner müssen soziale Rechte mit langem Atem verteidigt und weiterentwickelt werden. Das Streikrecht zu bewahren, bedeutet zum Beispiel den Kampf für die Überwindung des Aussperrungsparagraphen zu forcieren.

Mehr internationalistische Verantwortung zu übernehmen, heißt für die PDS: "sich den Kopf der Weltlinken zu machen". Nahezu alle SP und KP (auch die kubanische), die antiimperialistischen Befreiungsbewegungen in der Welt sehen die UNO und ihre Charta (mit dem Gewaltmonopol in Abschnitt VII) als einzige, von den USA systematisch gedemütigte, aber wenigstens vorhandene Ausgangsposition gegen die NATO-Vorherrschaft. Wir sollten also mit denunziatorischen Unterstellungen unter uns entschieden sparsamer werden. Dass der Parteivorstand es falsch findet, den UN-Einsatz in Osttimor, der das Gemetzel an Linken beendet hat, rundweg abzulehnen, hat doch nichts mit Koalitionen hierzulande zu tun. Die zwölf linken Parteien im Europaparlament, allen voran die KP Portugals (!), haben diesen UN-Einsatz als Ausnahmefall akzeptiert (einzige Abweichung: ein Abgeordneter der SP-NL). Denkverbote über Ausnahmefälle sind allenfalls mit Parteizirkeln, nicht aber mit der real existierenden Öffentlichkeit zu machen.

Willy Brandt sprach vor zwölf Jahren in Münster, wo wir unseren Parteitag haben werden, von der Notwendigkeit einer "Weltinnenpolitik". Seine Vision war ein Interessenausgleich von Nord und Süd in kleinen Schritten - für 2000 forderte er ein Prozent vom Bruttosozialprodukt an Entwicklungshilfe. Dazu stehen die erbärmlichen 0,24 Prozent heute im krassen Gegensatz! Mehr als 1,5 Milliarden Menschen müssen von weniger als einen Dollar am Tag leben, täglich verhungern Zehntausende, vor allem Kinder. Wenn die rot-grüne Bundesregierung und die jetzige SPD-Führung nichts mehr davon wissen will: die PDS fühlt sich vielen dieser Gedanken von Willy Brandt verpflichtet, wie sie im Brundtland-Bericht, beim Club of Rome und in wesentlichen Forderungen des "Brandt-Reports" notiert sind, gerade jetzt zu dessen 20. Jahrestag.

Hier sind bedeutende Hoffnungen und Visionen in der alten BRD entwickelt - und enttäuscht worden. Viktor Agartz, Wolfgang Abendroth, Theodor Adorno, Rudi Dutschke, Oskar Negt, Heinrich Böll, Petra Kelly, Uta Ranke-Heinemann, Frigga Haug und zuletzt Oskar Lafontaine - er kämpfte zunächst vergeblich für eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte - haben versucht, der Macht des Monopolkapitals und seiner kulturellen Hegemonie mit allen Mitteln Grenzen zu setzen und Menschen für diesen Streit zu ermutigen. Viele von ihnen haben von einer Partei links von der SPD geträumt. Auch, um diese wieder etwas sozialdemokratischer zu machen. Aber für eine dauerhafte Mobilisierung, für die Einigung zu einer linken Partei fehlte damals die historische Grundlage.

Ob die Zeit reif war für diese PDS mit all ihren Schwächen und inneren wie äußeren Widrigkeiten, werden andere nach uns entscheiden. Aber jetzt ist die PDS da, so wie sie ist, und sie gewinnt Akzeptanz auch im Westen. Sie ist eine fassbare Hoffnung geworden, für viele das Stärkste, was die Schwachen haben. Überall, wo die undemokratische Fünf-Prozent-Hürde beiseite geräumt worden ist, wie vor einem Jahr für die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, zeigt sich plötzlich, wie viele Wählerinnen und Wähler wirklich zu dieser Partei wollen und vielleicht schon lange wollten. Die gesamte Partei wird die Genossinnen und Genossen in Nordrhein-Westfalen im Landtagswahlkampf im Mai dabei voll unterstützen, noch mehr Druck von links zu entwickeln.

Wir werden stärker und wir sind stärker geworden und müssen diese Stärke aushalten. Wir haben an Vielfalt gewonnen und müssen mehr Spannungen aushalten. Wir sind mehr geworden und wir müssen uns aushalten. Unser Gegner möchte uns gern auseinander treiben. Wir aber sollten alle die hier angesprochenen Widersprüche sehen, klug durchdenken, uns gegenseitig zuhören und vor allem: Gemeinsamkeit in Pluralität und Solidarität schützen wie einen Augapfel.

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