Ein Medium ist dann perfekt, wenn der Übersetzungsvorgang ausgeblendet wird, sprich: das Sinfoniekonzert in Stereo über den Äther erklingt und die Fußballübertragung im Fernsehen Stadionatmosphäre vermittelt. So jedenfalls lautet die immer gleiche Werbebotschaft, und zwar nicht erst, seitdem das Handy nicht mehr rauscht.
Der Erfolg eines Mediums beruht also auf seinen mimetischen Fähigkeiten, mit den ersten kommerziellen Tonträgern verhielt es sich nicht anders. So veranstaltete die Firma Edison zwischen 1915 und 1925 Ratekonzerte, bei denen das Publikum erkennen musste, ob hinter dem Vorhang der Opernsänger oder dessen Aufnahme Arien schmetterte. Verwechselbarkeit als medialer Ritterschlag und Verkaufsargument. Alternativ ließ man den leibh
den leibhaftigen Caruso mit dem aufgenommenen im Duett singen, der auf der Bühne auch physisch präsente Phonograph wurde zum Doppelgänger.Die Ausstellung Phonorama am ZKM, dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, ist voll solcher Trouvaillen. Viele davon stammen aus der Zeit um 1900, als die ersten Tonträger aufkamen. Dazu gehören die Worte, die Soldaten 1914 ihren Lieben auf wächsernen Walzen hinterließen, bevor sie in den Ersten Weltkrieg zogen, und die häufig zum Vermächtnis wurden. Oder die Aufnahme des letzten päpstlichen Kastraten Alessandro Moreschi aus dem Chor der Sixtinischen Kapelle von 1904. Oder kleine sprechende Litfaßsäulen, die in Geschäften Schokolade optisch und akustisch anpriesen.Diese "Recreations" variieren das Grundmotiv der Ausstellung: Die Stimme wird losgelöst vom Sprecher. Die Worte einer abwesenden Person zu hören, stellte zunächst eine Herausforderung dar und war gewöhnungsbedürftig. Woher kommt die Stimme, fragten sich die zeitgenössischen Hörer. Lebte der Sprecher noch? Die frühe Plakatwerbung des Phonographen greift dieses Geisterhafte der Stimme ikonografisch auf: Eine Sirene hält den Trichter und im Hintergrund sprießt Friedhofsfauna.Diese Trennung der Stimme vom Menschen lässt sich zurückverfolgen ins späte 18. Jahrhundert. Einerseits sorgten "falsche" Sprachmaschinen für Furore, indem scheinbar leblose Figuren auf Fragen antworteten, und andererseits bauten findige Techniker wie der k.k. Hofbeamte Wolfgang von Kempelen eine der ersten Apparaturen, die auf rein mechanischem Wege mit Blasebalg einzelne Silben produzierte.Mediengeschichte ist somit immer auch Technikgeschichte. Dokumentiert werden die zahlreichen Versuche der Linguistik, den ephemeren Schall der Stimme festzuhalten, also in Grafen oder Bilder zu verwandeln und die Funktionsweise des Sprechens zu ergründen. Labiografen, Mutoskope und Pneumografen registrieren Lippenbewegungen, zeigen den Verschluss des Gaumens und messen das Atemvolumen. Eliza Doolittle kann davon in My Fair Lady bekanntlich ein Lied singen.Den umgekehrten Weg vom Bild zum Ton geht die Sprechblase, die sich bereits auf Darstellungen in der Antike findet: Beim Sehen (und Lesen) der beschrifteten Szene soll im Betrachter die Stimme hörbar werden. Die Intermedialität auf die Spitze trieb das französische Nachrichtenmagazin Sonorama aus den Fünfzigerjahren, dessen Seiten man herausnehmen und auf den Plattenteller legen konnte, um Interviews mit Celebrities oder Neuigkeiten aus dem Algerienkrieg zu lauschen. Mit den Ohren lesen lautete der Werbespruch.Dass der technologische Fortschritt keineswegs mit der Entzauberung der Welt einhergehen muss, dokumentiert eine mit 897 Audiotapes vollgepackte Regalwand, die Friedrich Jürgenson in den ersten Nachkriegsjahrzehnten aufgenommen hat. "Sprechfunk mit Verstorbenen" nannte der schwedische Maler seine Technik, mit einem Grundig Transistorradio Stimmen aus dem Jenseits auf Tonbändern zu bannen.Die Kuratorin von Phonorama, die Wiener Ausstellungsmacherin Brigitte Felderer, spürt auch der politischen Dimension der Stimme nach. Wir geben bei der Wahl ja nach wie vor unsere Stimme ab, und Politikern rät man auf vox populi, die Stimme des Volkes, zu hören. So entsteht eine Kulturgeschichte im besten Sinne, in der politische Metaphorik, Werbeplakate, esoterische Spinnereien, Spielfilme und Installationen hierarchielos nebeneinander stehen.Felderer präpariert jene Bereiche heraus, in denen die Stimme ein Eigenleben entwickelt, also etwa in den vermeintlich sinnlosen Buchstabenkaskaden der Lautpoesie, in der Kunst des Bauchredens oder in den Messen der Pfingstgemeinde, in denen die Gläubigen unartikuliert reden, ja fast lallen und so die innere Stimme sprechen lassen.Auch die Absenz der Stimme wird aufgegriffen: Seit der Aufklärung beschäftigt die Sprachlosigkeit der Taubstummen die Geister, werden Zeichensprachen ersonnen und Sprechmaschinen wie jene von Kempelens konstruiert. Die Taubstummen selbst freilich sehen sich heute häufig weniger als Behinderte, sondern als eigene Minderheit, fast im ethnischen Sinne.Eines der berührendsten Exponate ist die Videoprojektion Singing Lesson von Artur Zmijewski. Darin singen gehörlose und schwerhörige polnische Jugendliche auf ihre sehr eigene Weise eine Bachkantate. Die Verstörung, das Verrücken dessen, was wir für normal halten, gelingt aber nur im Verein mit den Bildern: feierlich-ernst sind die Gesichter, der Mund offen, der Blick auf die Partitur gerichtet. Die Stimmen allein, die eben gerade nicht das hervorbringen, was wir unter schönem Gesang verstehen, blieben in der Kakophonie gefangen. So aber beginnt der Betrachter "zurückzuhören", sich zu fragen, wie die Gehörlosen die Welt erfahren.Eine Ausstellung primär für die Ohren ist Phonorama also nicht, auch wenn es eine witzige Sammlung von Anrufbeantworterstimmen, einen bildlosen Hörraum über die Frühgeschichte des Radios und zahlreiche Kopfhörer zum Aufsetzen gibt. Es ist die Dualität von Hören und Sehen und das Ineinanderübergehen der Wahrnehmungsweisen, die den Reiz der Ausstellung ausmachen. Zum Abschluss darf sich der Besucher an der interaktiven Installation Messa di Voce synästhetisch berauschen und durch das Modulieren der eigenen Stimme geometrische Formen und bunte Kleckse auf eine Leinwand zaubern.Phonorama. Eine Ausstellung zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Noch bis 30.1.2005 in ZKM, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Mo u. Di geschlossen.www.zkm.de
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