Alvaro Gil-Robles, Menschenrechtsbeauftragter des Europarates, war in dieser Woche in Tschetschenien unterwegs, um Berichten über Folterungen und Exekutionen durch russische Soldaten nachzugehen. Direkte Beweise fanden sich nicht, doch sah Gil-Robles mit Grosny eine vom Krieg nahezu vollständig ausgelöschte Stadt. Für Europa ist deren Martyrium seit mehr als 55 Jahren ein einmaliges Memento. Unser Autor Ulrich Heyden hatte Ende Februar Gelegenheit, mit Tschetschenen und Russen zu sprechen, die trotz alledem in diesem Niemandsland der Zivilisation ausharren und auf ein Leben nach dem Krieg hoffen.
Unruhig geht Oberst Tscherkassin auf und ab. Er schaut angestrengt durch die Frontscheibe des Jeeps. Die Sicht ist schlecht. Wie immer um diese Jahreszeit liegt dichter Nebel über der Ebene bei Grosny. Während Tscherkassin seine Kalaschnikow im Anschlag hält, flucht er über die Schlamperei des Fahrers. »Warum hast Du vor der Fahrt den Ersatzreifen nicht aufgepumpt?« Die Schotterstraße ist mit Granat- und Raketensplittern übersät, ein Reifenwechsel für russische Militärfahrzeuge daher tägliche Notwendigkeit.
Mit der Wendigkeit eines 15jährigen hat Sergej, der Fahrer, den Wagenheber angesetzt und sich unter den »UAS« geschoben. Der Soldat, ein kräftiger Kolchosbauer, der zu Hause in Rostow am Don für die Gerätewartung zuständig ist, arbeitet wie der Teufel. Jeden Augenblick kann ein Kommando der Tschetschenen auftauchen - mit dem Oberst als Geisel könnte man in russischen Filtrationslagern einsitzende Gefangene freipressen. Während Tscherkassin nervös an seiner Zigarette zieht, inspiziert sein Adjutant die andere Straßenseite, auch mit der Mpi im Anschlag. Doch kein Freischärler weit und breit. Tschetschenen, die in vollbesetzten PKW und Bussen vorbeifahren, renken sich aber fast die Hälse aus. Erahnen sie die Angst der gestrandeten Jeep-Besatzung? Adjutant Boris nimmt die Blicke auf und flucht: »Seht euch die Nummernschilder an! 77 - Moskau, 61 - Rostow! Alle in Russland geklaut!« Dass die Tschetschenen angeblich nicht arbeiten, stattdessen einen illegalen Autohandel betreiben und Vieh von russischen Weiden treiben, steht für viele Militärs außer Zweifel.
Von ihnen stellt selten jemand die Frage, was eigentlich auf den russischen Sieg folgen, wie Tschetschenien regiert werden soll. Aber politische Konzepte sind nicht Sache der Armee. Die Generäle Troschew und Schamanow wiederholen immer wieder: Sieg heißt, die »Banditen« sind vollständig vernichtet. - Aber wo ist der Unterschied zwischen einem Banditen und einem Zivilisten? Die meisten russischen Soldaten sehen da keinen. »Tagsüber füttern wir die tschetschenischen Frauen«, flucht ein Mitarbeiter des Moskauer Katastrophenministeriums MTscheS, »nachts sitzen sie als Scharfschützen in den Ruinen.«
Das MTscheS hat überall im Zentrum von Grosny Rot-Kreuz-Zelte aufgeschlagen und tschetschenische Fahrer angestellt, die Verletzte und Kranke aus allen Teilen der Stadt hierher zur ärztlichen Versorgung fahren. Die Fahrer übernachten nicht weit von den Unterkünften der russischen Ärzte. Doch offenbar ist nachts den tagsüber loyalen Tschetschenen nicht zu trauen. Wenn alle schlafen, hält ein russischer Posten sicherheitshalber vor dem Zelt der Fahrer Wache. Man geht wohl davon aus, einer von ihnen könnte die Nerven verlieren und sich für die ausgelöschte Stadt rächen.
Auch die neue, vom Moskau-treuen Tschetschenen-Führer Beslan Gantamirow aufgebaute Miliz wird misstrauisch beäugt. »Das sind legalisierte Bajewiki (Kämpfer - die Red.), wer seine Waffe abgibt, sich an keiner terroristischen Aktion beteiligt hat und auf keiner Fahndungsliste steht, kann in die neue Miliz«, erklärt Ibragim Jasujew, der von Gantamirow eingesetzte Leiter der neuen Verwaltung im Leninskij Rayon von Grosny. Als die russischen Truppen 1995/96 die Kontrolle über die Stadt hatten, saß Ibragim schon einmal auf diesem Posten. Als die Freischärler im August 1996 zurückkehrten, flüchtete er nach Moskau.
Jetzt ist er wie viele andere wieder da, um sich - wie er sagt - »am Aufbau neuer Strukturen« zu beteiligen. Auf der Windschutzscheibe seines Jeeps prangt ein großes Bild seines Chefs. Darunter steht: »Gantamirow, der Putin Tschetscheniens.«
Wer durch Grosny läuft, könnte glauben, über der Stadt sei ein Bombenteppich nach dem anderen niedergegangen. Riesige Krater, eingestürzte Hochhäuser, von Granaten zerfetzte Bäume. Nach Angaben des russischen Oberarztes Gennadij Onischenko leben in dieser Steinwüste noch 15.000 Menschen. Zur Essensausgabe des MTscheS stellen sich aus dieser Schicksalsgemeinschaft der Lemuren nur die Frauen an. Ihre Männer halten sie aus Angst vor willkürlichen Verhaftungen in den Kellern versteckt. Das brutale Vorgehen der russischen Armee - die Tschetscheninnen berichten auch von willkürlichen Erschießungen und Vergewaltigungen - treibt den Freischärlern auch jetzt noch neue Kämpfer zu. Im Lagebericht des russischen Stabes vom 24. Februar heißt es nüchtern: »Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren füllen die Reihen der Bandenformationen auf.«
Vor einer der verstreuten Verteilungsstellen des MTscheS wartet auch Ruman Musaejwa. 20 Jahre arbeitete die Tschetschenin als Lehrerin und bekam ihr letztes Gehalt vor genau einem Jahr. Wie andere Frauen, die hier anstehen, ist sie von Präsident Aslan Maschadow enttäuscht. »Ich habe ihn gewählt, weil er aus dem Militär kam, und hoffte, er würde für Ordnung sorgen. Aber er blieb nicht sauber, ließ sich mit schmutzigen Elementen ein.« Sie klagt nicht nur über die Willkür der russischen Soldaten, auch vor Übergriffen der bärtigen Wahabiten sei man nicht sicher gewesen. Dann kommt sie zum vorerst letzten Kapitel ihrer Geschichte: »Nachdem neben meinem Haus eine Rakete einschlug, zog ich mit den beiden Töchtern und dem Sohn in den Keller der Mittelschule Nr. 50. Dort leben wir bis heute mit 30 anderen.« Ihr Ausweis und die Photos der Kinder sind in einer Plastiktüte verschnürt und mit einer Sicherheitsnadel unter dem Mantel an den Pullover geheftet, genau über dem Herzen. Ruman zeigt auf das Bild ihres 18jährigen Jungen: »Meinen Sohn Sulejman haben sie am 2. Februar ohne jede Begründung zusammen mit drei anderen in seinem Alter verhaftet. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er war meine einzige Stütze. Wenn mir jetzt etwas zustößt, sind die beiden Mädchen allein.« Weinend wirft sie sich in die Arme einer Bekannten. »Sie können alle Zerstörungen hier sehen, aber nicht die Schmerzen in unseren Herzen.«
Unweit vom Lebensmitteldepot starten Lastwagen des MTscheS, um Leichen zu bergen. Etwa 3.000 Tote sollen noch in den Trümmern und Kellern der Stadt liegen. Gennadij Onischenko befürchtet, in Grosny könnte - sobald es wärmer wird - die Pest ausbrechen, übertragen durch Ratten, die zwischen den Flüssen Sunscha und Terek leben. Vor Frühlingsbeginn müssten demzufolge die Leichen unbedingt geborgen sein.
Wir fahren zu einem zerbombten, ehemals »besseren«, aus Klinkersteinen gebauten Haus im Sawodskoje Rayon am Rande der großen Ölraffinerie von Grosny. Dort empfängt uns eine etwa 70jährige Frau: »Mein Mann starb während der Kämpfe ganz plötzlich an einem Herzschlag. Das war am 15. Februar. Seitdem liegt er nun schon im Keller.« Die mit Atemschutz arbeitenden Leichenträger legen eine Decke über den Toten. Nur die Füße in den dicken Wollsocken bleiben sichtbar. Irgendjemand hat dem Alten die Schuhe ausgezogen. Mit ihm liegen auf der Ladefläche des MTscheS-Lastwagens nun fünf Leichen - zwei Russen und drei Tschetschenen. Die ersteren werden auf dem christlich-orthodoxen Friedhof beerdigt, die anderen auf einem muslimischen vor der Stadt. Weil die Begräbnisorte direkt in Grosny zerstört, nicht zugänglich oder überfüllt sind, haben sich Gemeinden an der Peripherie bereit erklärt, Opfer der vierwöchigen Schlacht unter ihrer Obhut bestatten zu lassen.
Auf der Fahrt zurück passieren wir mehrere Wachposten. Hier kontrollieren OMON-Polizisten des russischen Innenministeriums Personen und Fahrzeuge. Wegen der über die Straße gelegten Betonteile lässt sich der Checkpoint nur mit einer Slalomfahrt passieren. Die OMON-Leute können nicht verhehlen, dass sie seit längerem weitab der Zivilisation leben. Rauschebärte, primitiv zusammengezimmerte Unterkünfte, auf dem Feld ein in die Erde eingegrabenes Militärzelt deuten darauf hin. Aus einem Ofenrohr zieht eine Rauchfahne in den dunstigen Himmel. Passieren darf nur, wer einen Propusk - einen Passierschein des Stadtkommandanten Wassili Prisemlin - sein eigen nennt. Ihre mit Sandsäcken, Stacheldraht, Holzstämmen und Betonsegmenten gesicherte Bastion haben die OMON-Leute mit markigen Sprüchen verziert. Sie strotzen vor Siegeszuversicht und Profanität. »Speznas aus Kirow war hier!« - »Wlad, Igor, Kolja grüßen Sergej.« Auf einem wackeligen Tisch, an dem die vorbeifahrenden Fahrzeuge registriert werden, steht eine Vase mit zwei knallroten Plastikrosen. Wie zwei Frauenbrüste sieht man sie von weitem durch den Nebel leuchten. Hinter dem Tisch sitzt ein frierender Polizist in einem Polstersessel, offensichtlich nicht aus den Beständen der Armee, sondern aus einer Wohnung.
Vor dem Beton-Labyrinth des OMON-Postens wartet Nadja mit ihrer Freundin Sina. Die beiden Flüchtlinge kommen aus dem nordossetischen Wladikawkas und wollen zurück nach Grosny. Nadja sieht aus wie eine Kaukasierin, knallblond gefärbte Haare, ein orangefarbenes Kopftuch, Schmuckgold am Hals, ein weiter, schwarzer Rock mit vielen Falten. Doch sie ist Russin, »mit udmurtischem Einschlag«, wie sie sagt. Nadja arbeitete mit Sina in der Bauverwaltung von Grosny, die unter der Leitung des späteren Guerilla-Kommandanten Aslambek Ismailow stand. Ende Januar geriet er, der zu den Verteidigern der Stadt gehörte, bei einem Ausbruchsversuch in ein Minenfeld und wurde zerrissen. An diesen Ismailow erinnert sich die Russin Nadja mit dem größten Respekt. »Das war ein exzellenter Fachmann. Ich kann verstehen, dass er seine Erde mit der Waffe in der Hand verteidigen wollte ...« Nadja, so scheint es, legt Wert darauf, sich mehr zu einer kaukasischen als zu einer russische Identität zu bekennen. Beim Thema Dschochar Dudajew - er war der erste Präsident Tschetscheniens nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung von 1991 - gerät sie regelrecht ins Schwärmen. »Mit seiner estnischen Militärmütze und dem schwarzen Ledermantel sah er wirklich blendend aus. Aber wenn er Reden hielt, dachten wir immer, wir seien im Theater.«
Aus dem Theater wurde ernst. Nachdem die Freischärler Grosny im August 1996 zurückerobert hatten, flohen viele Russen, die bis dahin noch in der Stadt geblieben waren. »Bevor die Rebellen kamen«, erzählt Nadja, »lebten bei mir im Haus 66 russische und zwei tschetschenische Familien. Danach kehrte sich das Verhältnis total um. Nun wohnte ich zusammen mit 66 tschetschenischen Familien und war in der Minderheit ...« Wo die Tschetschenen herkamen? Nadja erinnert sich: »Meistens aus den Bergen, glaube ich. Obwohl die Stadt schon damals stark zerstört war, erschien sie ihnen wie Rio de Janeiro.«
Jetzt will Nadja sehen, ob ihr neungeschossiges Wohnhaus in Grosny noch steht. Ein Augenzeuge habe berichtet, es gäbe nur noch drei Etagen. Die beiden Frauen sind voller Hoffnung. Sie wollen sich bei der neuen Miliz registrieren lassen und staatliche Unterstützung beantragen. Fachfrau Nadja meint: »Natürlich bauen wir Grosny wieder auf. Das ist doch unsere Stadt.«
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