Die Vorratsdatenspeicherung ist der kleine Wiedergänger der Notstandsgesetze. Damals, im Mai 1968, wurde die Verfassung ohne jede Not geändert, mit den Stimmen einer großen Koalition, gegen den Widerstand großer Teile der Gesellschaft. Die Republik brauchte die Notstandsgesetze nicht. Aber die alliierten Siegermächte verlangten sie, zu ihrer eigenen Sicherheit. Die Gesetze sollten vorsorglich regeln, was im Spannungs- oder Verteidigungsfall zu tun wäre, und welche Grundrechte man dann suspendieren müsse. Es waren Gesetze auf Vorrat, für den hoffentlich nie eintretenden Ernstfall.
Dass sie so mutwillig durchs Parlament gepeitscht wurden, weckte bei vielen Kritikern damals große Befürchtungen. Vom Ende der Freiheit war die Rede und von der Wie
on der Wiederkehr des Faschismus. Die Furcht war so groß, dass Willy Brandt und die FDP (!) dafür sorgten, dass ein neuer Absatz in die Verfassung eingefügt wurde. Artikel 20, Absatz 4 lautet seither: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Die bösen Vorahnungen der Kritiker haben sich Gott sei Dank nicht erfüllt. War der Protest also falscher Alarm?Seit dem 11. September 2001 leben wir tatsächlich in einer Art Spannungszustand. Wir befinden uns im „Krieg gegen den Terror“. In vielen westlichen Staaten wurden die Bürgerrechte empfindlich eingeschränkt und die Überwachungsmaßnahmen ausgeweitet. Die Folgen wird man erst spüren, wenn wir in eine ernste Krise geraten. Aber dann ist es zu spät. Das ist das Grundproblem von Gesetzen, die für einen gedachten Ausnahmezustand beschlossen werden.Stellen wir uns also vor, in Deutschland gäbe es, analog zum Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo, einen islamistisch motivierten Anschlag auf eine Zeitungsredaktion, ein Stadttheater, eine Sportveranstaltung, mit vielen Toten. Fassungsloses Entsetzen würde die ARD-Brennpunkte füllen. Es begänne die Jagd auf die Attentäter und ihre Hintermänner. Die Polizei würde eine Weile im Dunkeln tappen, was den Druck auf die Ermittler ins Unerträgliche erhöhte. Schnell würde man sich dann jener erinnern, die die Vorratsdatenspeicherung durch ihr Nein im Parlament verhindert haben. Es hagelte Schuldzuweisungen. Die Medien würden über die Nein-Sager herfallen. Die Vorratsdatenspeicherug würde in atemberaubender Geschwindigkeit mit überwältigender Mehrheit nachträglich beschlossen. In verschärfter Form. Eine beschämende Situation.Wer dieses Szenario für unwahrscheinlich hält, muss sich nur die Chronologie der Gesetzgebung zur Vorratsdatenspeicherung bei unseren Nachbarn ansehen. Stets waren konkrete Terroranschläge die treibende Kraft, immer dienten sie als Begründung, Überwachungsgesetze mit heißer Nadel zu stricken und möglichst schnell zu verabschieden. So reagierte die EU mit ihrer Richtlinie auf die Anschläge von Madrid 2004, Großbritannien reagierte auf die Anschläge in London 2005, Schweden auf den Massenmord von Anders Breivik im Jahr 2011, Frankreich auf den Anschlag im Januar 2015. Auch Deutschland könnte irgendwann an der Reihe sein.Dabei ist die Vorratsdatenspeicherung gar nicht notwendig. Schon jetzt arbeiten die Strafverfolger mit zahlreichen Überwachungs-Methoden, von der Rasterfahndung bis zur Funkzellenabfrage. Die Provider stellen der Polizei ihre Vorratsdaten freiwillig zur Verfügung. Man kann das jeden Sonntag im „Tatort“ besichtigen, wenn die Verkehrs- und Standortdaten von Handys abgefragt werden. Nur: Bislang bestand für die Provider keine Pflicht, diese Daten zu speichern. Künftig wird es standardisierte Pflicht und das heißt, wer unvollständig aufzeichnet, muss mit hohen Geldbußen rechnen. Wenn die Geheimdienste BND oder NSA auf die Datensätze zugreifen wollen, möchten sie nicht umständlich in tausend unterschiedlich geführten Dateien herumirren müssen.Die Vorratsdatenspeicherung ist also kein wirklich neuer Tatbestand, sie ist vielmehr ein schleichendes Gift für die offene Gesellschaft, weil sie zu Duckmäusertum und Anpassung führt. Permanente Überwachung ändert unser Verhalten permanent. Das scheint den Sozialdemokraten heute nicht mehr bewusst zu sein. Als Anarchisten im Mai und Juni 1878 zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübten, präsentierte Bismarck dem Reichstag umgehend seine Notstandsgesetze: Sie richteten sich gegen „die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, der man eine geistige Mittäterschaft an den Attentaten zuschrieb. Die SPD wurde für 12 Jahre verboten, ihre Mitglieder wurden gesellschaftlich geächtet.Diese Angst vor der sozialen „Ausbürgerung“ schwingt noch immer mit. So ließ Bundesjustizminister Heiko Maas beim SPD-Konvent am vergangenen Samstag durchblicken, dass sein plötzliches Ja zur Vorratsdatenspeicherung nicht auf Vernunft gründe, sondern der Angst vor den Auswirkungen eines Attentats geschuldet sei. Die Sozialdemokraten haben offenbar vergessen, dass sie aus dem Konflikt mit Bismarck als stärkste politische Kraft des Kaiserreichs hervorgegangen sind. Es war der Lohn für ihr zwölfjähriges Leiden und für die Standhaftigkeit, nicht mit den Wölfen zu heulen.Placeholder authorbio-1