Auf einer Fanreise nach Lemberg erlebte ich am Samstag eine kleine Währungskrise. Ich stand vor einem Geldautomaten in einer westukrainischen Stadt und wusste nicht, wieviel die Hrywnia wert ist. Sollte man 50 Hrywni abheben, oder doch lieber 200? Eine Taxifahrt, später noch eine Stulle – mehr würde es nicht brauchen, doch wie viel Kaufkraft steckte in 50 Hrywni? Als ich spätnachts wieder die Grenze nach Polen passierte, hatte ich immer noch 40 Hrywni in der Tasche. Zwei Scheine als Andenken an einen Ausflug über die EU-Außengrenze hinaus. Denn auch in Polen gilt ja noch der Zloty, und viele Besucher von Spielen der Fußball-EM 2012 werden am Ende auf Kleinbeträgen sitzen bleiben, die in Euro zurückzuwechseln keinen Sinn ergibt.
Die Kopekenfuchserei im Reisealltag ist nur die konkrete Kehrseite jener abstrakten Geldsummen, die in Europa derzeit fehlen oder vorgehalten werden und die sich auf eine merkwürdige Weise in die Wahrnehmung des Fußballfests hineindrängen. Denn es spielen hier ja ständig Nationalmannschaften gegeneinander, und da ist die Versuchung groß, in die Spielkultur etwas hineinzulesen, was über Offensivpressing oder Defensivriegel hinausgeht. Ist Deutschland nicht auch deswegen Favorit bei diesem Turnier, weil das Land insgesamt seine „Hausaufgaben“ gemacht hat? Zeigt das Spiel der französischen Equipe nicht Anzeichen jener staatswirtschaftlichen Versteinerung, die man dem Land häufig unterstellt? Ist das öde englische Spiel das, was von einer radikalen Entindustrialisierung übrigbleibt?
Und schließlich die gewichtigste Frage: Beruhte die Vorherrschaft der spanischen Nationalmannschaft in den letzten Jahren am Ende auf einem nicht rückzahlbaren Kredit? Spiele sind Metaphern, ihre Interpretation ist selbst ein Spiel. Ein vielfältiger kultureller Raum wie Europa gibt sich auch in seinen Fußballmannschaften ständig ein neues Gesicht, und man könnte lang diskutieren, ob es zwischen dem italienischen Catenaccio und der mittelständischen Wirtschaftsstruktur des Landes eine innere Verbindung gibt – mit flexibler Fünferkette gegen den spanischen Immobilienboom, das ging ja im ersten Spiel schon einmal ganz gut!
In diesen Tagen, in denen Europa gebannt auf seine Zahlenwerke starrt, sieht es ebenso fasziniert seinen Fußballkünstlern zu und kann gar nicht anders, als das Spiel mit tieferer Bedeutung aufzuladen. Ein Turnier in den östlichen Entwicklungsregionen des Kontinents verweist uns auf Wertschöpfungspotentiale, die dort vorhanden sind, wo noch große Bevölkerungsgruppen vom westlichen Lebensstandard weit entfernt sind; es verweist aber auch auf die alten Hierarchien, die in jeder dieser Konkurrenzen auf die Probe gestellt werden, sich aber in der Regel doch durchsetzen.
Niemand kann sagen, ob diese EM ihr programmiertes Finale bekommen wird. Doch es wäre von kaum zu überbietender Symbolik, wenn einander am 1. Juli tatsächlich Deutschland und Spanien in Kiew gegenüberstehen würden: die größte Gebernation der EU gegen die größte Nehmernation, die umerzogene Musterdemokratie gegen den Modernitätsnachzügler hinter den Pyrenäen. Die ungeliebte Austeritätsmacht trifft auf ihren blinden Fleck: das verwirrende Tiki-taka der spanischen Kurzpässe. Deutschland müsste dieses Spiel schon schön gewinnen, um es richtig zu gewinnen. Denn es sind eben nicht nur die Zahlen, die stimmen müssen.
Bert Rebhandl ist Filmkritiker und Groundhopper. Er bloggt auf herthabsc.blogspot.com
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