Einzigartig und dennoch verwechselbar Der Fingerabdruck ist ein unfehlbares Mittel zur Identifikation von Straftätern, glauben nicht nur Krimifans zu wissen. Ein Blick hinter die Kulissen der Spurensicherung zeigt jedoch die Problematik der Daktyloskopie und wirft die Frage auf, ob der von Innenminister Schily und anderen geforderte Fingerabdruck im Pass tatsächlich die perfekte Überwachung ermöglicht
Die schlaueren Gauner tragen bei der Arbeit Handschuhe - so kennen wir das aus Spielfilmen und Kriminalromanen. Die Realität ist manchmal noch besser: Oberganove Al Capone ließ sich die so genannten Papillarlinien von den Fingerkuppen entfernen. Wer bei seinen Missetaten nicht erwischt werden will, hinterlässt besser keine Spuren am Safe oder dem blutigen Messer. Der Fingerabdruck ist das Trumpf-Ass der Kommissare und Detectives, der unwiderlegliche Beweis der Täterschaft. Warum eigentlich?
Relikt aus der Kolonialgeschichte
Der Glauben an die Identifikationsmacht des Fingerabdrucks ist so tief verwurzelt, dass diese Frage zunächst naiv anmutet. Der amerikanische Wissenschaftsforscher Simon Cole hat sie sich dennoch gestellt und in seinem brillanten Buch Suspect Ident
anten Buch Suspect Identities die frühe Geschichte der Daktyloskopie aufgerollt. Das späte 19. Jahrhundert erlebte eine regelrechte Konjunktur der Identifikation, die von dem Kontrollbedürfnis des Staates herrührte, seine Bürger verlässlich wieder zu erkennen. Sei es um in den Massen der rasant anwachsenden Großstädte die verbrecherischen Elemente zu finden, sei es um in Britisch-Indien den Betrug bei der Rentenauszahlung zu unterbinden - zu ähnlich sahen sich in europäischen Augen die dunkelhäutigen Empfänger, die mitunter versuchten mehrfach abzukassieren. In diesem kolonialen Kontext kam es erstmals zur systematischen Abnahme von Fingerabdrücken. Bis sich die Daktyloskopie auch in der Kriminalistik durchsetzte, vergingen allerdings noch mehrere Jahrzehnte. Härtester Konkurrent war die so genannte Bertillonage, die mittels akribischer Vermessung des menschlichen Körpers Menschen eindeutig zu identifizieren suchte. Lobbyarbeit war dringend erforderlich, die Einzigartigkeit der Abdrücke wurde behauptet - und literarisch illustriert: Selbst wenn die Persönlichkeit gespalten ist und sich der gute Dr. Jekyll in den bösen Mr. Hyde verwandelt, der Körper und damit auch der Fingerabdruck bleiben sich gleich, ein Leben lang. Dieses Verkaufsargument aus dem frühen 20. Jahrhundert ist mittlerweile zum festen Glaubenssatz geronnen. Die Fingerabdrücke seien selbst DNA-Abstrichen überlegen, betonen die Daktyloskopen von heute. Während die DNA von eineiigen Zwillingen ident sei, unterschieden sich ihre Fingerabdrücke, denn die Form der Papillarlinien entsteht durch Umwelteinflüsse, etwa durch Druck und Temperatur im Mutterleib. Dass bei den unzähligen Abgleichungen noch nie zwei Personen mit denselben Mustern gefunden wurden, ist den Befürworten Beweis genug. Ein Beweis freilich, der nur induktiv geführt werden kann und sich für Cole implizit auf die bereits in der Antike weit verbreitete metaphysische Überzeugung stützt, dass die Natur - Stichwort Schneeflocke - keine zwei völlig identischen Dinge hervorbringt. Verwirrende MinutienAber selbst wenn man die Einzigartigkeit der Fingerabdrücke akzeptiert, sind sie deshalb noch lange nicht unverwechselbar - was mit der Praxis des Erkennungsdienstes zusammenhängt. Im Gegensatz zu den idealen Bedingungen auf einer Polizeiwache, auf der einem Verdächtigen alle zehn Fingerabdrücke sauber abgenommen werden, sind die Abdrücke am Tatort unvollständig, verschmiert oder überlappen sich. Je nach dem ob man einen Gegenstand nur berührt oder fest drückt, variieren Länge und Breite der Papillarlinien. Da die Einbrecher und Mörder nicht mit Stempelkissen an den Fingern umherlaufen, muss man hoffen, dass ihnen wenigstens der Angstschweiß auf den Händen perlt. Denn von der Qualität der mit Zephirpinsel und feinem Rußpulver sichtbar gemachten Schweißspuren hängt die Verwertbarkeit ab. Es müssen genügend so genannte Minutien erkennbar sein, d.h. ganz bestimmte Merkmale, etwa wo Papillarlinien enden oder sich gabeln, wo es Einschlüsse und Punkte gibt. Über hundert solcher Minutien gibt es an einem Fingerabdruck, aber die magische Zahl ist zwölf. Wenn man so viele gemeinsame Merkmale zwischen zwei Fingerabdrücken feststellen kann, stammen sie von ein und derselben Person. Das gilt aber nicht überall. In Deutschland wurde 1980 von Sachverständigen dieser Standard festgelegt, der auch in vielen anderen europäischen Ländern gilt. In manchen asiatischen Ländern reichen bereits zehn Minutien für eine Verurteilung, in Großbritannien lag die magische Grenze bis vor kurzem bei sechzehn. In den USA wird eine Mindestzahl sogar abgelehnt. Da die Merkmale ganz unterschiedlicher Qualität sein können, sei es unsinnig, rein quantitative Maßstäbe anzulegen, kritisieren die US-Experten das "unwissenschaftliche" System der Europäer. Was selten vorkommt, etwa eine Gabelung mit drei anstatt zwei Fortsetzungen, müsse mehr zählen. Wenn aber das Mindestmaß entfällt, überlässt man es ganz der Entscheidung des jeweiligen Daktyloskopen, welche Minutien eine Identifikation erlauben. Europäische Experten sehen hier die Gefahr von Willkür und intersubjektiv nicht nachvollziehbaren Entscheidungen. Dass es aber ausgerechnet zwölf Minutien sein müssen, wirkt letztlich nicht weniger willkürlich. Das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden verweist auf langjährige Erfahrung und Sachverständige - das System bestätigt sich selbst. Gleich ob mit oder ohne Standard - der heikelste Punkt ist die Abgleichung einer Tatortspur mit den gesammelten Fingerabdrücken. Daran ändert auch die modernste Technologie nichts. Zwar sind alle 16 Landeskriminalämter Deutschlands durch das vielgerühmte AFIS (Automated Fingerprint Identification System) mit der großen Datenbank des BKA verbunden, in der die Fingerabdrücke von über zwei Millionen schon einmal straffällig gewordenen Frauen und Männern gespeichert sind. Aber AFIS fehlt das Fingerspitzengefühl, es vergleicht nicht die Merkmale, sondern die Muster der Papillarlinien. Das Programm liefert dem ermittelnden Beamten nicht auf Knopfdruck den Abgleich, sondern spuckt lediglich eine Vorauswahl von bis zu 99 in Frage kommenden Fingerabdrücken aus. Die letzte Entscheidung trifft der Daktyloskop selbst - minutiös. Subjektive Momente könnten bei der Vergleichsarbeit nie ganz ausgeschlossen werden, räumt man beim BKA ein. Das "Vier-Augen-Prinzip" soll jedoch Fehlzuschreibungen vermeiden, sprich, die Identifikation durch einen Sachverständigen muss immer durch einen zweiten bestätigt werden. Zudem hätten Vergleichstests ergeben, dass im Zweifelsfall für ein "nicht identisch" votiert würde. In der Tat ist von Falschzuschreibungen in Deutschland nichts bekannt. Aber sowohl im merkmalfixierten Großbritannien als auch in den qualitativ-quantitativ ausgerichteten USA kamen spektakuläre Fehlidentifikationen ans Licht der Öffentlichkeit. Aus Sorge den Nimbus der Unfehlbarkeit einzubüßen, schob man die Schuld den Praktikern zu. Entsprechende Testreihen unter US-Daktysloskopen führten in den letzten fünf Jahren zu Ernüchterung, gar zu blankem Entsetzen: Die Fehlerquote lag zwischen 3 und 22 Prozent. Schwindende BeweiskraftAll dies blieb so manchem Strafverteidiger in den USA nicht verborgen, in mehr als zehn Fällen attackierten sie die Beweiskraft des Fingerabdrucks als völlig ungenügend. In einem Fall schickte Stephen Meagher, der führende Daktyloskop des FBI, zwei Spuren aus einem Fluchtauto und den Abdruck des Angeklagten an die 50 erkennungsdienstlichen Labors der US-Bundestaaten. Sieben davon waren nicht in der Lage die erste Spur mit dem ganzen Fingerabdruck zu korrelieren, fünf misslang dies bei der zweiten Spur. Der wenig erfreute Meagher sandte nun vergrößerte Kopien an die "Versager", auf denen er die zu korrelierenden Minutien rot markierte. Daraufhin sandten fast alle inkriminierten Labors die verlangten Nachweise. Dieses wenig überzeugende Vorgehen hat die Auseinandersetzung nur noch mehr angeheizt und Anfang Januar war es dann so weit. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der Fingerabdruck von einem Richter im Bundesstaat Pennsylvania zurückgewiesen. Richter Louis Pollak ging freilich nicht so weit, das Beweismittel grundsätzlich für unzulässig zu halten. Er sprach der Daktyloskopie aber die von ihren US-Proponenten in Anspruch genommene Wissenschaftlichkeit ab. Trotz einer hundertjährigen empirischen Praxis inklusive zahlreicher Veröffentlichungen könne bei der Daktyloskopie nicht von einer scientific community mit einer institutionalisierten selbstkritischen Diskussion gesprochen werden. Nie habe man systematisch Fehlerraten ermittelt. Schließlich mangle es an international verbindlichen Standards. Einige Monate zuvor hatte der Fingerabdruck unerwartet an Relevanz gewonnen. Nach dem 11. September verlangten nicht nur in Deutschland Sicherheitspakete schnürende Politiker den Fingerabdruck im Pass. Die Aktien der Anbieter biometrischer Erkennungssysteme gehörten zu den wenigen, die nach den Terroranschlägen stiegen. Wobei der Marktanteil der Fingerabdruckerkennungssysteme bei fünfzig Prozent liegt; den Rest des biometrischen Kuchens teilen sich Verfahren, die über Auge (Iris), Schrift, Stimme, Gesicht und Handform identifizieren. Zwar geht es beim Sicherheitscheck am Flughafen nicht um die Identifikation einer unbekannten, sondern um die Verifikation einer bekannten Person. Aber - abgesehen von den Bedenken der Datenschützer - hält auch die zivile Praxis der Daktyloskopie reichlich Fallstricke bereit. Häufiger Umgang mit Chemikalien kann die Papillaren an den Fingerkuppen abschleifen; auch ist der Abdruck nie völlig identisch, da etwa Pulsschlag oder Hautspannung minimale Veränderungen bedingen. Am problematischsten ist aber die Datensicherheit: Wer schützt vor Hackern, die Fingerabdrücke stehlen und dann das Bankkonto leeren oder sich unerlaubt Zutritt zu sensiblen Orten verschaffen? Die Einmaligkeit der Merkmale würde dann zum Bumerang. Ein gestohlenes Passwort kann man ändern, die Papillarlinien bleiben. Zum Weiterlesen: Simon Cole: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification. Harvard University Press, London/Cambridge (Mass.) 2001, 369 S., US-$ 17,50
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