Ein Video geht um die Welt: Es zeigt eine aufgebrachte Gruppe Frauen auf dem Campus der Universität Ankara, die auf einen Mann einschlägt. Die wütenden Frauen sind kaum zu halten. Der anwesende Sicherheitsdienst scheint ratlos, er traut sich kaum einzugreifen.
Die ungewöhnlichen Bilder finden auf Facebook schnell Verbreitung. Nationale und internationale Medien berichten über das Video. Der Mann, der die Prügel bekommt, ist ein Student der Universität Ankara. Als sich seine Ex-Freundin von ihm trennen wollte, soll er versucht haben, sie zu vergewaltigen. Nach diversen sexistischen und beleidigenden Posts von ihm auf Twitter sucht die Frau Hilfe bei Frauenorganisationen auf dem Campus.
Das Video wurde von den Kampüs Cadıları, den Campushexen, auf Facebook veröffentlicht. Zwei Frauen der Gruppe aus Istanbul, Juliana Gözen und Eylem Gültekçe, erklären im Gespräch den Fall aus ihrer Sicht: „Wir setzten uns mit der Betroffenen zusammen und fragten sie, was sie sich von uns wünscht.“ Die Frau war sich sicher, dass sie den Fall öffentlich machen und den Mann anprangern wollte. Gemeinsam mit anderen Frauenorganisationen entwickelten die Campushexen eine Strategie.
„Legitim gewehrt“
Sie sprachen dem Mann eine kollektive Warnung aus und veröffentlichten seine frauenfeindlichen Twitter-Postings auf dem Universitätsgelände. „Er sah seine Schuld nicht ein und provozierte uns. Daraufhin haben wir unser Recht auf Selbstverteidigung geltend gemacht“, sagt Gözen. „Wir denken, dass die Gewalt in diesem Fall nicht von uns ausgegangen ist, sondern dass wir uns legitim gegen die physische und psychische Gewalt dieses Mannes gewehrt haben.“
Die feministische Gruppe mit dem prägnanten Namen gründete sich 2013. Studentinnen aus Istanbul, Ankara, Mersin, Hatay und anderen türkischen Städten schlossen sich an ihren Universitäten zusammen, um gegen die Probleme vorzugehen, denen Frauen auf dem Campus ausgesetzt sind. „Viele junge Frauen ziehen zum Studieren nach der Schule in eine andere Stadt und verlassen zum ersten Mal das Elternhaus. Viele fühlen sich zunächst frei, sind aber schnell mit den Alltagsproblemen einer türkischen Frau konfrontiert“, erzählt Gözen. Sie berichtet von sexueller Belästigung durch private Sicherheitsdienste auf dem Unigelände, von Vergewaltigung in Studentenwohnheimen. „Wir sahen die Notwendigkeit, uns als Frauen organisieren zu müssen.“
Aber nicht nur auf dem Campus sehen sich Frauen in der Türkei mit Problemen konfrontiert. „Die Methode findet auch in anderen Zusammenhängen Anwendung“, antworten die Aktivistinnen auf die Frage, ob der Angriff in dem Video der erste seiner Art sei. „Oft ist der Nahverkehr so überfüllt, dass einige Männer die Situation ausnutzen, um Frauen sexuell zu belästigen. Es kam schon mal vor, dass die Täter dann aus dem Bus geworfen wurden.“ Selbstverständlich werde nicht jeder körperlich angegangen, der der sexuellen Belästigung beschuldigt wird. „Aber man merkt schon, dass es ein hohes Verteidigungsbedürfnis bei Frauen gibt. Femizide finden in unserem Land systematisch statt“, sagt Gözen.
Der Verein „Wir werden Frauenmorde stoppen“ zählte im vergangenen Jahr 303 Morde an Frauen. Allein im ersten Quartal 2016 zählte die Organisation 94 weibliche Todesopfer. Laut der oppositionellen Informationsstelle Bianet waren in 54 Prozent der Fälle die Mörder Verwandte oder Ex-Partner der Frauen. Die Zahlen basieren wohlgemerkt auf offiziellen Medienberichten über Morde, die an Frauen aufgrund ihres Geschlechts verübt wurden. Die Dunkelziffer liegt wohl weitaus höher.
Seitdem die AKP 2003 die Regierung übernommen hat, hat sich die Zahl dieser Morde mehr als verzehnfacht. „Die Diskurse um den weiblichen Körper haben in dieser Zeit stark zugenommen. Das Regime schreibt Frauen einen minderwertigen Ort in der Gesellschaft zu“, kritisiert Gözen. Tatsächlich werden die Belange der Frauen von führenden AKP-Politikern oft benutzt, um eigene Ansichten zu vermitteln. Auf einer Pressekonferenz 2014 verlautbarte Recep Tayyip Erdoğan, dass Männer und Frauen von der Natur unterschiedlich geschaffen seien und deshalb nicht gleichberechtigt sein könnten. In anderem Kontext bezog er sich auf den Islam, der die Rolle der Frau in der Gesellschaft über die Mutterschaft definiere.
Solche Äußerungen können potenzielle Täter ermutigen, sexistisches Verhalten und Gewalt gegen Frauen auszuüben. Derartige Gewalt gipfelte im vergangenen Jahr im Falle der 20-jährigen Psychologiestudentin Özgecan Aslan. Im Februar 2015 wurde sie in Mersin von dem Busfahrer Suphi Altındöken ermordet. Er hatte versucht, sie zu vergewaltigen und tötete sie, nachdem sich die junge Frau gewehrt hatte. Mit Hilfe seines Vaters und eines Freundes trennte er die Hände der Leiche ab, um seine DNA-Spuren zu vertuschen. Der Mordfall erregte große Aufmerksamkeit in der Türkei. In vielen Städten gab es Demonstrationen. Im Dezember vergangenen Jahres wurden die Täter zu lebenslanger Haft verurteilt.
Medialer Druck
Das Urteil haben viele Frauenrechtsorganisationen als ungewöhnlich bezeichnet. Viele vermuten, dass erst durch die mediale Aufmerksamkeit der Druck entstanden sei, Höchststrafen über die Täter zu verhängen. Verglichen mit anderen Ländern des Mittleren Ostens befindet sich die Türkei bezüglich der Gesetzgebung gegen Gewalt an Frauen zwar in der Vorreiterrolle. In vielen Fällen erhalten Angeklagte aber durch männliche Justizbeamte Strafmilderungen. Gözen sagt: „Die Angeklagten brauchen nur zu behaupten, dass ihre Tat ein Ausrutscher sei, sie ansonsten gläubige Muslime seien. Oder sie müssen nur eine Krawatte im Gerichtssaal tragen, um wegen guter Führung nicht ins Gefängnis zu müssen. Die Justiz gibt den Tätern so zu verstehen: ‚Mach weiter, Bruder.‘“
Oftmals wird die Schuld an Sexualverbrechen den Frauen selbst zugeschrieben, wenn diese kurze oder enge Kleidung trugen. Die Ex-Freundin des Mannes aus dem oben zitierten Video ist zur Staatsanwaltschaft gegangen, um ihren Peiniger anzuzeigen. „Der Beamte sagte, dass er Beweise von ihr bräuchte. Aber was kann sie denn außer einer Aussage vorbringen?“, fragt Gözen. Der Ex-Freund habe nach dem Angriff der Frauen gegen ihn Anzeige bei der türkischen Antiterroreinheit gegen die Campushexen gestellt. Es wird vermutlich zu einem Strafverfahren gegen die Beteiligten der Strafaktion kommen.
Dass Frauen, die für ihre Rechte kämpfen, der türkischen Regierung ein Dorn im Auge sind, wurde Anfang März im Rahmen der Feierlichkeiten des Weltfrauentags besonders sichtbar. Im Istanbuler Stadtteil Kadıköy fand am 6. März eine große Frauendemonstration statt. An diesem Tag versetzte die Polizei den Stadtteil mit einem massiven Aufgebot in den Ausnahmezustand. Zwar wurde die Versammlung zuvor verboten, die Frauen kamen aber trotzdem: In mehreren Gruppen schafften sie es, sich in einer großen Demonstration zusammenzufinden und ihr Anliegen friedlich auf die Straße zu tragen.
Nach einer halben Stunde löste die Polizei die Versammlung unter Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas gewaltsam auf, was international für Aufsehen sorgte. Unter anderem wurden Bilder davon in das Extra3-Spottvideo geschnitten, aufgrund dessen die türkische Regierung den deutschen Botschafter einbestellte.
„Bei den Frauen in der Türkei hat sich viel Wut angestaut. Je mehr Frauen unterdrückt werden, desto mehr Widerstand werden wir leisten“, konstatieren die zwei Campushexen Gözen und Gültekçe. Die Frauenbewegung habe auch schon einiges erreicht. „Durch unseren Widerstand wurde 2012 das Gesetz gekippt, das Abtreibungen verbieten sollte.“ Und auch die Rolle der Frauen bei den Gezi-Protesten 2013 heben sie hervor: „Die Frauen waren qualitativ wie quantitativ stark an den Protesten beteiligt. Die Fotos, auf denen eine Frau von der Polizei mit Pfefferspray besprüht oder eine andere von einem Wasserwerfer angegriffen wird, stehen symbolisch für den Geist, mit dem Frauen in die Proteste hineingegangen sind.“
Gözen bewertet die aktuelle Situation für die oppositionelle Bewegung insgesamt als sehr schwierig: „Die Neuwahlen im November des letzten Jahres stellen für uns einen zivilen Putsch dar. Es ist ein Angriff auf die Gesellschaft, bei dem die Opposition isoliert werden soll.“ Diese Isolation sei auch gefährlich für die Frauenbewegung. „Uns ist klar, dass wir allein wenig ausrichten können. Deswegen müssen Frauen trotz ideologischer Differenzen gemeinsame Aktionen anstoßen.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.