Der Verleger des Freitag, Jakob Augstein, hat anlässlich der Kölner Kaddor-Demonstration darauf hingewiesen, dass die muslimischen Verbände sich ganz richtig verhalten, wenn sie sich nicht wie „Onkel-Tom-Türken“ zu irgendwelchen Protestaktionen zitieren lassen. Damit durchbrach er die durchgehend missbilligenden Kommentare aus Presse und Politik hinsichtlich der Absagen der großen muslimischen Verbände. Anlass genug für diese, sich in ihrer Haltung bestätigt zu fühlen. Aber nichts wäre falscher.
Die Worte des Freitag-Verlegers treffen einen Nerv gerade in der türkisch-muslimischen Community. Denn der Text bedient die Trigger türkisch-muslimischer Medienrezension, bei der plakativste und gröbste Zuspitzungen auf größte Zustimmung stoßen. Es ist aber wichtig, zu differenzieren. Muslime sind keine „Onkel-Tom-Türken“, die sich herumkommandieren lassen.
Warum findet eine solche Metapher so große Zustimmung unter der türkisch-muslimischen Leserschaft? Sehen die Nachkommen der ersten Gastarbeitergeneration ihre Eltern als unterwürfige „Onkel Toms“? Ja, die erste Generation der türkischen Gastarbeiter hat sich bis an die Grenze der Ausbeutung buchstäblich kaputtgearbeitet. Sie wurde auf vielerlei Weise gedemütigt und im gesellschaftlichen Ansehen herabgestuft. Aber dennoch war und ist dieser Elterngeneration eine besondere Würde zu eigen, die von der Bereitschaft, sich für eine bessere Zukunft der eigenen Kinder aufzuopfern, getragen wird. Dieser Würde, dieser Leistung und diesem Erbe das Etikett des servilen Sklaven umzuhängen, sollten sich zuallererst die türkischstämmigen Leser widersetzen. Stattdessen applaudieren sie einer solchen Zuschreibung – in der Annahme, sie träfe den verhassten Debattengegner. Warum ist das so?
Weil das Wort des „Onkel-Tom-Türken“ auf der Klaviatur türkischer Seelenbefindlichkeit die richtige Taste trifft: „dik duruş“. Wörtlich „aufrechtes Stehen“, sinngemäß „sich nicht beugen“ oder „erhobenen Hauptes stehen“. Die Verbände wurden in den sozialen Medien dafür gelobt, sich angesichts des Demonstrationsaufrufes den Teilnahmeaufforderungen widersetzt und „dik duruş“ gezeigt zu haben.
Der innere Feind
Die türkische Medienlandschaft ist durchsetzt von Symbolen des „dik duruş“. Selbst im Unterhaltungsprogramm sind diese Narrative vertreten. Eine der erfolgreichsten Produktionen ist die Serie Diriliş – Ertuğrul. Sie dramatisiert als Historienschlachtplatte das Leben des Ertuğrul Gazi, einem Grenzgebiet-Fürst im 13. Jahrhundert. Ertuğrul Gazi ist der Vater Osmans, des späteren Gründers des Osmanischen Reiches. Das Publikum erfährt, welche Kämpfe auszufechten und Widerstände zu überwinden waren, um den Aufstieg des Osmanischen Reiches vorzubereiten. Und was war die größte Gefahr? Nicht etwa äußere Bedrohungen, nein, der innere Feind. Der Verräter in den eigenen Reihen, der insgeheim fremden Mächten dient.
Diriliş – Ertuğrul hinterlässt seine Spuren. Türkische Jungmänner finden immer mehr Gefallen daran, sich mit den Insignien des oghusischen Stammes der Kayı, den Ertuğrul anführte, zu schmücken. Zum Beispiel mit dem Banner Ertuğruls, auf dem in stilisierter Form ein Bogen und zwei Pfeile abgebildet sind. In Gruppen laufen neuerdings junge türkischstämmige Männer durch deutsche Wälder und schießen mit Pfeil und Bogen auf Wildtier-Attrappen. Man kann das als eine neuzeitliche Form von Geschichtsfolklore verstehen. Gravierender wirkt die Subbotschaft dieser Serie. Die Suche nach dem inneren Feind ist mittlerweile zu einer konkreten Paranoia geronnen. Befördert durch die Ereignisse um den Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 sind die Denkmuster verhärtet. Es gibt nur noch Freund oder Feind.
Jedes Verständnis für gegensätzliche Positionen, jeder Kompromiss werden so unmöglich. Denn jedes Entgegenkommen wäre die Preisgabe des „dik duruş“, wäre Schwäche und Unterwerfung. Bei so einem Denkmuster gehen zwangsläufig inhaltliche Aspekte über Bord. Dass man sich damit aus der gesellschaftlichen Debatte verabschiedet und als Vertreter einer absoluten und unverrückbaren Maximalposition nicht mehr ernsthaft als Teil einer pluralistischen Gesellschaft mit vielen, teilweise einander widersprechenden, aber in einen Ausgleich zu bringenden Interessengruppen wahrgenommen wird, scheinen die Verbände nicht erkennen zu können.
Aus muslimischer Sicht noch substanzieller ist indes die Beschädigung der ureigenen Spiritualität als Folge der oben beschriebenen Denkmuster.
Muslimischen Akteuren – gerade auch auf Verbandsseite – kommt das Gespür dafür abhanden, in welcher Gesellschaft sie leben und in welcher Wechselwirkung sie zu ihr stehen. Stimmungen werden nicht wahrgenommen. Jede gesellschaftliche Erwartung, die an muslimische Verbände adressiert wird, wird dort als Kapitulationsforderung interpretiert. Jede kontroverse Meinung hat einen feindseligen Hintergedanken, jede Diskussion trägt den Keim der Niederlage in sich, die unausweichlich ist, je mehr man gewillt ist, Zugeständnisse und Kompromisse zu machen. So werden mittlerweile Stimmen innerhalb der muslimischen Verbände laut, die davon reden, Muslime müssten das Recht haben, ihre Religion ungestört von gesellschaftlicher Einmischung ausüben zu können. Wohlgemerkt sind damit nicht die Kriterien verfassungsrechtlich verbürgter Religionsfreiheit gemeint, sondern das bloße Muslim-Sein – und der Wunsch, mit dieser Identität bitte schön ungestört von Nachfragen oder Diskussion bleiben zu dürfen.
Man muss als Muslim Jakob Augstein aber auch bei seinem Onkel-Tom-Türken-Vergleich ins Wort fallen. Er weist durchaus berechtigt auf die unsäglich paternalistische Haltung der öffentlichen Debatte hin. Aber Muslime/Türken sind nicht die seit 400 Jahren ausgebeuteten, verkauften, geschundenen, geprügelten, gepeitschten und gelynchten Sklaven dieser Gesellschaft. Wer sich diesen Schuh anzieht, begibt sich in eine fremdzugeschriebene Unterwürfigkeit, deren Fatalismus mit nichts zu vereinbaren ist, wofür muslimisches Selbstverständnis stehen sollte.
Fragen und Forderungen an die muslimische Adresse, zumal an die der Verbände, sind keine gebieterischen Verfügungsakte. Sie sind Herausforderungen an Akteure, die sich selbst Einfluss, Größe und Bedeutung zuschreiben. Es sind Fragen und Forderungen, die gerade deshalb aufkommen, weil die Akteure es über Jahre hinweg schuldig geblieben sind, deutlich zu kommunizieren, was sie denken und wofür sie stehen. Hätte es die letzten 15 Jahre eine vernünftige, fundierte, ausgiebige Kommunikation der eigenen Positionen gegeben, würde heute niemand mehr die Forderung nach Demonstrationen stellen.
Trotziges Verweigern
Wir haben tatsächlich ein Problem, das sich wie folgt darstellt: Die Bemühungen der muslimischen Minderheit, gleichberechtigt an dieser Gesellschaft teilzuhaben, stoßen an unzulässige Grenzen. Wir haben ein einflussreiches deutsches Establishment, das in dem Wunsch der muslimischen Minderheit nach Gleichberechtigung die Gefahr der eigenen Entrechtung, gar Überwältigung wahrnimmt. Falsche, „gefühlte“ Statistiken über die Größe der muslimischen Minderheit, paranoide Geburten-Dschihad-Theorien, Neutralitätsgesetze, Kopftuchverbote, Burka-Diskussionen, Leitkultur-Debatten sind alle Ausdruck dieser neuen „German Angst“. Die Angst davor, durch das selbst formulierte Ideal der Gleichberechtigung benachteiligt zu werden. Der Verlust der Privilegien wird als eigene Entrechtung empfunden.
Da verzweifelt tatsächlich eine privilegierte Mehrheit an dem Wunsch der gesellschaftlichen Minderheit, endlich uneingeschränkt nach den Regeln leben zu wollen, die eben jene Mehrheit selbst in Gestalt des Grundgesetzes festgeschrieben hat. Zu diesem paradoxen Verhalten gehört es natürlich auch, im Gestus des Hausherren Ansagen zu machen, was man von Minderheiten erwartet. Dieser Attitüde haben sich viele Menschen auf dem Kölner Heumarkt verweigert. Die Verbände aber hatten die Chance, sich durch eine intensive Befassung mit diesen Phänomenen in die Debatte einzubringen. Selbst eine Absage hätte noch Berechtigung gehabt, wäre sie von einer intensiven Diskussion begleitet worden. Das aber hat – wie all die Jahre zuvor – nicht stattgefunden. Der Impuls des „dik duruş“ stand dem wohl im Weg.
So bleibt das Bild einer trotzigen Verweigerung zurück, welche die Öffentlichkeit – wieder mal – nicht nachvollziehen kann. Wir reden weiter aneinander vorbei.
Wie massiv das die ureigene Substanz islamischer Religiosität bedroht, wurde zeitgleich mit der Kölner Demonstration deutlich – als Seyran Ateş in Berlin ihre sogenannte liberale Moschee gründete.
Man könnte aus einer souveränen Gelassenheit heraus die Entstehung von muslimischen Sekten im Randbereich der muslimischen Gemeinschaft einfach ignorieren, meinetwegen belächeln. Allein die Idee, eine „Islamreform mit beschränkter Haftung“ anzugehen – nichts Geringeres haben die Initiatoren sich ja vorgenommen –, fordert schon zu allerlei satirischen Wortspielen heraus. Den Betroffenen darf man das zumuten, sind sie es doch, die viele Jahre nicht nur muslimische Verbände, sondern die Lebens- und Glaubenspraxis auch einfacher Muslime diskreditiert haben.
Was sich allerdings verbietet, sind die Häme, die Verächtlichmachung, die Bestrafungs- und Vernichtungsfantasien, die den Betroffenen in den sozialen Medien entgegengeschleudert wurden. Es ist genau diese Art der Abgrenzung und Markierung Andersgläubiger und Andersgesinnter, auf deren Boden die giftige Saat der Gewaltbereitschaft und des Extremismus gedeihen. Wer dieses Gebaren in seinen Reihen duldet, darf angesichts der Gewaltbereitschaft später nicht mit den Schultern zucken.
Natürlich ist es für uns orthodoxe Muslime eine Zumutung, Kernelemente unserer Glaubenspraxis in einer so entstellten Art und Weise zu erleben. Aber die Reaktion darauf – will sie tatsächlich religiös fundiert sein – kann und darf doch über Gelassenheit und die Überleitung in Gottes Ratschluss nicht hinausgehen. In unserer Rechtsordnung hat jede und jeder das Recht auf seinen ganz persönlichen Irrtum. Gerade in Glaubens- und Meinungsfragen. Und was in den Herzen anderer Menschen vorgeht, obliegt nicht unserem Urteil. Wir haben genug mit den Problemen vor unseren Füßen zu tun – die immer größer werden, je länger wir schweigen und uns dieser Gesellschaft trotzig verweigern.
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