Mit Respekt

Im Kino »Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr« von Claude Lanzmann

Yehuda Lerners Gesicht ist unergründlich. Es ist von großer, verwitterter Schönheit. Seine Augen fixieren unter schweren Lidern und mit klarem Blick ihr Gegenüber, ob dieser seiner unerhörten Geschichte auch wirklich Glauben schenkt. Ein rätselhaftes Lächeln umspielt seinen Mund. Oft blitzt gar sachter Humor auf in seinen Antworten, als sei dies Zeugnis eines Holocaust-Überlebenden nicht nur eine Geschichte des Entronnenseins, sondern des heiteren Gelingens.

Der Stolz des 16-Jährigen ist noch längst nicht getilgt aus den Zügen des reifen Mannes, wenn Yehuda Lerner erzählt, wie er innerhalb von sechs Monaten aus insgesamt acht Lagern entfloh und den Auftakt gab zur Revolte im KZ Sobibor, als er mit dem Beil einen SS-Offizier erschlug. Er weiß seine Ungeduld zu bezähmen, während die Dolmetscherin seine Antworten übersetzt; auch in diesen Pausen ist er sich gewiss, dass er nie die Aufmerksamkeit seines Interviewers verlieren wird. Sein Zeugnis vollzieht sich in einem Rhythmus gelassener Dringlichkeit. Claude Lanzmann hat es schon Ende der siebziger Jahre aufgenommen, während der Dreharbeiten zu Shoah. Von der Revolte im polnischen KZ Sobibor wird dort zwar oft erzählt, aber Lerners Aura unbedingten Überlebenswillens fügte sich nicht in Konzeption und Montage von Lanzmanns Chronik der Vernichtung.

Sein neuer Film ist gewissermaßen deren mehrfach widerständiger Ableger. Der Aufstand der Insassen von Sobibor war der einzige, der je gelingen sollte. Ein jüdischer Sowjetoffizier, Alexander Petscherski, hatte ihn in nur wenigen Wochen mit strategischem Sachverstand geplant. Die SS-Offiziere wurden zum 14. Oktober 1943 ab 16 Uhr in kurzen Abständen in die verschiedenen Werkstätten des Lagers bestellt, wo ihnen bewaffnete Häftlinge auflauerten. Sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Die selbstgewissen Deutschen trauten den Juden weder Wehrhaftigkeit noch den Umgang mit Waffen zu; 30 der Flüchtlinge überlebten.

Dieses Kapitel der »Wiederaneignung der Kraft und Gewalt durch die Juden« (Lanzmann) erschließt sich der Film als heroische Erzählung. Lanzmanns Fragen zielen auf Konkretion, er erforscht Dutzende praktischer Details, bis in der minuziös rekonstruierten Vorbereitung und Ausführung der Revolte Lerners emotionale Erfahrungen gegenwärtig werden. Eine ganz kinohafte Spannung baut sich auf, ein fast Hitchcockscher »Suspense«, wo der Zuschauer in gebannter Erwartung verharrt, obwohl er den Ausgang doch kennt. So erzählt Lanzmann von der Menschwerdung eines Heranwachsenden, dem es jugendliche Energie und treuherzige Aufruhr undenkbar machen, sich wie Vieh abschlachten zu lassen.

Das Unzeigbare auf die Leinwand zu bannen ist als Herausforderung zur Grundbedingung aller Filme Lanzmanns geworden. Auch in Sobibor verweigert er sich der naiven, frivolen Illustration. Sein Film ist aus wenigen Elementen komponiert: dem alten Interview, einigen Einstellungen von Plänen des KZ und aktuellen Aufnahmen der Schauplätze in Polen und Weißrussland, die eher vom Vergessen zeugen, als von der Erinnerung. Der Zeitschrift Cahiers du cinéma hat Lanzmann von den widrigen Umständen berichtet, unter denen das Gespräch mit Lerner stattfand. Erschöpft und unvorbereitet erschien er am Ende der Dreharbeiten zu Shoah in dessen Tel Aviver Wohnung, sein Kameramann hatte kaum noch Filmmaterial, er war unzufrieden mit dem Bildausschnitt, die Dolmetscherin wartete ungeduldig darauf, zum Freitagsgebet in die Synagoge zu gehen.

Im fertigen Film ist jedoch zu spüren, wie rasch Lerner sie alle in seinen Bann schlug. Die Unzulänglichkeiten kehren sich in eine Tugend. Die nachträgliche, ausführliche Übersetzung widerspricht unseren Sehgewohnheiten - heute würde man eine solche Zeitverschiebung zwischen Antwort und Reaktion mit einem voice over auflösen -, aber gerade durch diese Umständlichkeit wird die Stimme der empfindsamen, bald engagierten Dolmetscherin zu einer unverzichtbaren dritten Instanz. Eingangs irritiert es, dass Lerner in der dritten Person befragt wird, als würde er über einen Anderen sprechen. Aber aus diesem Umweg erwächst augenblicklich eine respektvolle Distanz, die Interviewer wie Zuschauer zu vorsichtiger, behutsamer Annäherung mahnt. Denn bei aller Auskunftsfreude strahlt Lerner etwas aus, das sich entzieht, nicht der der Kamera, aber den Fragen: die widerspenstige Schönheit des Überlebens.

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