Was tun, wenn man in den 15. Deutschen Bundestag einziehen möchte, aber man nicht einmal sicher sein kann, vom eigenen Gemüsehändler auf der Straße wiedererkannt zu werden? Eine starke Persönlichkeit entwickeln! - Das jedenfalls glaubt Silvio Berger, Einzelbewerber für die Bundestagswahl im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg. Der in der Lausitz geborene, 35-jährige Politikstudent ist einer von neun parteilosen Direktkandidaten, die sich den Berlinern als Alternative zu den etablierten Parteien für die Wahl am 22. September empfehlen. Doch während die politische Konkurrenz im Wahlkampf auf Kampa und mediale Spin Doctors setzt oder sich doch wenigstens ihre Wahlplakate von namhaften Comic-Zeichnern illustrieren lässt, müssen die ambition
ionierten Einzelbewerber auf Mund-zu-Mund-Propaganda vertrauen.In seinem Wahlbezirk rund um die Revaler Straße sucht Berger das Gespräch. Auf Bundesebene, so erläutert er, wolle er sich vor allem für die Verbesserung der Ausbildungs- und Beschäftigungssituation in den neuen Ländern stark machen. Seine Forderung nach einem "gläsernen Bundestagsabgeordneten" werde aus aktuellem Anlass ja bereits vielerorts diskutiert.Auch wenn Berger bei seinen verbalen Exkursionen in die eigene Programmatik öfter mal den roten Faden verliert, seine Gesprächspartner scheint dies nicht zu stören. Ganz im Gegenteil. Mit seinen politischen Zielvorgaben auf Bezirksebene findet er durchaus Zustimmung, wenn es um die Verbesserung der Verkehrssituation im Bezirk oder die Durchsetzung bürgerfreundlicher Behördenstrukturen geht.Die Kosten seiner politischen Visionen muss der gelernte Sanitärinstallateur aus eigener Tasche bezahlen. Ganze zehn Prozent Stimmenanteil müsste ein sogenannter Bürgerkandidat im eigenen Wahlkreis erreichen, um in den Genuss der Wahlkampf-Kostenerstattung von etwa zwei Euro pro abgegebener Stimme zu kommen. Hierfür müsste der Kandidat zehn- bis fünfzehntausend Stimmen erhalten, die Einwohnerzahl einer Kleinstadt. Für einen politischen Nobody scheint das fast aussichtslos.Von derlei Skepsis lässt sich Silvio Berger nicht verunsichern, schließlich hat er schon einiges für seine Kandidatur in Kauf genommen. Wie für die anderen Kandidaten waren für den Zweckoptimisten Berger schon die erforderlichen 200 Unterstützerunterschriften von Wahlberechtigten aus dem eigenen Stimmbezirk eine beträchtliche Hürde. Am Ende sei es derart knapp geworden, dass er noch fehlende Unterschriften in seinem Sportstudio hat einsammeln müssen.Das Engagement der Berliner Einzelkandidaten, die sich bis zuletzt in sieben von zwölf Wahlkreisen um ein Direktmandat bemühen, basiert auf tiefer Parteienverdrossenheit, die sich jedoch individuell sehr unterschiedlich artikuliert. Von der Ostbiografie einmal abgesehen, verbindet den Früh-Rentner Josef Lange, der im Wahlkreis Treptow-Köpenick kandidiert, nicht allzu viel mit seinem jüngeren Mitbewerber aus dem innerstädtischen Szene-Kiez. Potenzielle Wähler müssen sich für den eigenbrödlerischen Parteienkritiker schon Zeit nehmen, denn statt mit einem Wahlprogramm möchte Josef Lange mit seiner Lebenserfahrung im persönlichen Gespräch überzeugen. Natürlich könne er Programme herunterbeten, die einem sowieso niemand mehr glaubt.Ernüchtert von den Realitäten der gesamtdeutschen Republik hält sich das ehemalige Mitglied der Ost-SPD in Oberschöneweide mit seiner Kandidatur für einen Stachel in der selbstgefälligen Parteienlandschaft. Seit seinem Austritt aus der SPD, für die er noch 1990 stellvertretender Kreisvorsitzender in Köpenick war, hat er wiederholt für den Deutschen Bundestag kandidiert - nicht weil er glaubt, etwas bewegen zu können, sondern weil er hofft, am vermeintlichen Alleinvertretungsanspruch der Parteien kratzen zu können. Über den politischen Gestaltungsspielraum von Einzelbewerbern macht sich Josef Lange keine Illusionen. Viel lieber als für den Bundestag würde er für die Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Köpenick kandidieren. "Doch wenn Sie die Wahlordnung kennen", sagt er, "da, wo man als Einzelner was machen kann, darf man nicht kandidieren, und da wo man kandidieren kann, kann man als Einzelner nichts machen."Ein gänzlich anderes Politikverständnis vertritt der 36-jährige Westberliner Frank Ditsche in Berlin-Reinickendorf. Im Gegensatz zu seinen Mitbewerbern steht er nicht allein wegen seines Hawaiihemdes und der Bermudashorts für einen völlig anderen Typus des Einzelbewerbers. Mit seinen Aktionen gelingt es dem Kaufmännischen Angestellten immer wieder, mediale Aufmerksamkeit zu erheischen. Es sind die mitunter fragwürdigen Spielregeln unseres Gemeinwesens, denen Frank Ditsche mit seinen kurzen Märschen durch die Institutionen begegnen will. Ob beim Gang vor das Bundeskartellamt, im Bestreben, das "Preisdiktat" der Berliner Bäderbetriebe zu brechen oder im Bereich mangelnder medizinischer Vorsorge beim Grauen Star. Politisches Know-How, da ist sich Frank Ditsche sicher, sei keine zwingende Voraussetzung, um seine Umwelt auf Missstände aufmerksam zu machen. Einen Kultstatus im Berliner Vorwahlkampf sicherte sich der umtriebige Einzelbewerber, als er mit Zollstock ausgerüstet den Wahlplakaten der Konkurrenz auf den Leib rückte. CDU und SPD hatten nicht nur einen Tag früher als genehmigt im Bezirk Reinickendorf ihre Plakate angebracht. Wahlplakate hätten im Fußgängerbereich auch nicht den vorgeschriebenen Bodenabstand von mindestens 2,50 Metern gehabt. An einigen Stellen sei durch aufgestellte Plakate sogar die Verkehrssicherheit beeinträchtigt gewesen. Der Mann mit Augenmaß meldete die Verstöße dem Tiefbauamt und bekam Recht; die etablierten Parteien mussten ihre Plakate umhängen. Wie weit ihn letztlich dieser Pyrrhus-Sieg tragen wird, bleibt abzuwarten. Denn seit 1949 hat kein Einzelbewerber mehr den Sprung in den Deutschen Bundestag geschafft.